Leben Ist Jetzt
kämpfen, sich das Leben zu erobern und
seine eigene Identität zu finden. Wenn der alte Mensch immer noch um seinen Platz im Leben kämpfen würde, wäre das für uns eher lächerlich. Jeder Mensch
braucht ein Gespür für das je Eigene, das in seiner Lebensphase verwirklicht werden will.
Im Herbst, sagten wir, wird geerntet. So geht es beim Älterwerden um das Reifen einer Frucht, an der wir uns erfreuen, die wir genießen, die aber auch
andere Menschen befruchtet. Die Frucht, die im Alter heranreift, will – um im Bild zu bleiben – auch anderen das Leben versüßen. Wer vom
Älterwerden redet, spricht nicht nur von nachlassenden Kräften, Verfall und Schwäche, im Gegenteil: Bis ins hohe Alter gibt es Chancen und positive
Möglichkeiten, des Wachsens, des Reifens und der Vollendung.
Der bekannte Altersforscher Paul Baltes erzählte gern eine Anekdote über
Arthur Rubinstein. Der 80-jährige wurde demnach einmal gefragt, wie er denn in seinem hohen Alter immer noch ein so begnadet guter Konzerpianist sein
könne. Der Künstler spricht in seiner Antwort von drei Prinzipien, die es ihm immer noch erlaubten, so gut Klavier zu spielen: Auswählen, Optimieren,
Ausgleichen. Er habe durch eine Auswahl ihm wichtiger Stücke sein Repertoire verkleinert – also eine Wahl getroffen. Durch diese Selektion könne er
diese Stücke auch mehr und intensiver üben als früher. Dadurch verbessere er sich technisch. Das ist also eine Optimierung. Und weil er die ausgewählten
Stücke nicht mehr so schnell wie früher spielen konnte, wandte er einen Kunstgriff an: Vor besonders schnellen Passagen verlangsamte er sein Tempo; im
Kontrast erschienen diese Passagen dann wieder ausreichend schnell. Das ist eine sehr wirksame Form der Kompensation und Teil einer positiven
Strategie. Sie widerlegt das Vorurteil, Älterwerden sei nur unter dem Vorzeichen des Nachlassens und der Verminderung zu sehen. Sich auf wenige Ziele zu
beschränken, diese aber sehr energisch zu verfolgen und dabei nach geeigneten inneren und äußeren Ressourcen der Kompensation zu suchen – das ist
die Kunst des guten Älterwerdens.
Was Arthur Rubinstein da als Geheimnis seiner Kunst im Älterwerden beschrieben hat, gilt nichtnur für Künstler,
sondern für jeden, der sein Alter spürt. Er kann vielleicht nicht mehr soviel schaffen wie früher. Also muss er auswählen, was ihm wichtig ist, um seine
Kräfte besser einzusetzen. Das, was ihm wichtig ist, soll er bewusst leben und sich ganz darauf einlassen. Natürlich braucht er Methoden, um mit den
Defiziten gut umzugehen. Er muss manche Lücken in seinem Wissen mit seiner Erfahrung ausfüllen und manche Lücken in seiner körperlichen Leistungskraft
wettmachen durch die Fähigkeit, mit weniger Energieeinsatz trotzdem etwas zu vollbringen.
Man lebt nur einmal, sagt man. Das heißt: Das Leben jedes Menschen ist einmalig. Jeder Mensch ist einzigartig. Romano Guardini meint,
Gott habe über jeden Menschen ein Passwort gesprochen, das nur für diesen ganz bestimmten Menschen „passt“. Unsere Aufgabe in jeder Lebensphase ist es,
dieses einmalige Wort, das Gott nur über uns spricht, in dieser Welt vernehmbar werden zu lassen. Wir leben nur dann wirklich gut, wenn wir uns unserer
Einzigartigkeit bewusst werden und wenn wir verinnerlichen, dass wir nur einmal leben. Jesus hat uns in seiner Predigt immer wieder ermahnt, aufzuwachen
und wirklich zu leben – nicht irgendwann, sondern jetzt. Denn wir haben nur dieses eine Leben. Und das sollen wir nicht verschlafen. Leben ist immer
jetzt: Wir sollen nicht einfach so dahin leben, sondern mit offenenAugen durch die Welt gehen und unsere Lebensspur bewusst in diese
Welt eingraben.
Manche bekommen Angst, wenn sie sich bewusst machen, dass sie nur einmal leben. Sie stopfen alles ins Leben hinein, was schnellen Genuss
verspricht. Für sie ist Älterwerden eine Katastrophe. Denn im Alter könnte ja alles zu spät sein. Aber so werden sie unfähig, ihr Leben in jedem Moment
wirklich zu genießen. Sie starren auf das zu kurze Leben und meinen, sie müssten alle ihre Sehnsüchte vom Leben auch ausleben. Doch da sie das nie
schaffen, weil Sehnsucht keine Grenze kennt, werden sie immer hektischer und zugleich unzufriedener.
Manch einer mag dieser Einmaligkeit und Unwiderruflichkeit seines Lebens vielleicht aus dem Weg gehen, indem er an ein nochmaliges Kommen auf die Erde
glaubt, an die Reinkarnation. Doch das ist für
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