Leben Ist Jetzt
werden älter. Und jeder erlebt das Älterwerden anders. Jeder lebt es auch anders. Der eine freut sich, dass
er schon älter ist. Der andere versteckt am liebsten sein Alter. Auch da ist es wichtig, dass wir unser Älterwerden akzeptieren und mit den Jahren
wachsen. Seit 18 Jahren arbeite ich im Recollectiohaus, in das Priester und Ordensleute kommen, die ausgebrannt sind oder einfach etwas für ihre innere
Regeneration tun möchten. Bei den Vorgesprächen habe ich manchmal den Eindruck: diese Schwester ist 70 Jahre alt. Aber sie ist noch voller Vitalität und
innerer Frische. Und dann kommt ein Priester, der erst 58 Jahre alt ist. Aber er wirkt alt. Wenn wir im Team über unseren Eindruck der künftigen Gäste
sprechen, dann spielt das innereund äußere Alter immer eine Rolle. Wir trauen jedem Menschen in jedem Alter noch eine Wandlung zu. Aber
wenn wir den Eindruck haben, jemand ist innerlich alt und unbeweglich, dann tun wir uns schwerer mit der Hoffnung, dass er wieder zum Leben kommt. Oft
macht es uns traurig, wenn ein Mensch so frühzeitig altert. Vielleicht hat dieser Mann oder diese Frau selbst die Hoffnung aufgegeben. Er hat keine Träume
mehr. Er lässt sich nicht mehr begeistern. Es ist keine Glut mehr in ihm, die brennt und auch andere wärmt. Von solchen Menschen geht etwas
Niederdrückendes aus.
„Man ist so alt wie man sich fühlt“, heißt ein oft gehörtes Wort. Es bezieht sich auf die innere Jugend. Wenn sich alles schwer
anfühlt, wenn ich Angst habe vor allem Neuen, dann bin ich „alt“, ganz gleich, in welchem Lebensalter ich gerade stehe. Das Wort darf aber nicht das
konkrete Alter ausblenden. Ich darf mit siebzig Jahren nicht so tun, als ob ich noch dreißig wäre, aber ich kann mich mit siebzig Jahren durchaus noch
innerlich jung fühlen. Ich bin offen für das, was das Leben noch bietet. Ich bin interessiert. Ich lese viel und unterhalte mich gerne, weil mich das
Leben der Menschen interessiert. Diese Offenheit sollen wir uns in jedem Lebensalter bewahren. Wie hat der alte Albert Schweitzer geschrieben: „So lange
die Botschaften der Schönheit, Freude, Kühnheit und Größe dein Herz erreichen, solange bist du jung.“
Älterwerden heißt immer auch: neu anfangen
„Man muss sich immerfort verändern, erneuern, verjüngen, um nicht zu verstocken“. Das hat der 80-jährige Goethe gesagt. Goethe war
offensichtlich innerlich nicht stehen geblieben, sondern hat am Leben teilgenommen, aber auf andere Weise als in seinen jungen Jahren. Mit Verjüngen meint
auch Goethe nicht, dass er sich den Jungen anpassen sollte. Verjüngen bedeutet vielmehr, sich immer wieder an die innere Quelle erinnern, die in einem
fließt. Die innere Quelle, letztlich die Quelle des Heiligen Geistes, strömt ständig in uns. Sie erneuert alles in uns. Wir brauchen diesen erneuernden
Geist Gottes in uns, um lebendig bleiben zu können. Wer sich nicht verjüngt, der verstockt. Er erstarrt innerlich. Er wird steif wie ein Stock. Alle
Lebendigkeit und Beweglichkeit ist aus ihm gewichen. Das ist eine Verfälschung des Lebens.
Auf der einen Seite beenden wir mit dem Alter eine aktive Phase. Aber diese Beendigung ist nur bei denen ganz klar, die durch eine
Pensionierung von ihrer Arbeit entbunden werden. Bei vielen anderen ist es ein fließender Übergang vom aktiven Dasein zum mehr beschaulichen Dasein. Alter
ist nie nur Beendigen eines früheren Zustandes. Es ist immer auch ein Neuanfang. Es gibt Neues zu erfahren und zu erleben, Neues zu lernen und zu
entdecken an sichselbst, an den Menschen seiner Umgebung und in der Welt. Aber diesen bewussten Anfang kann nur der setzen, der bereit
ist, sich von dem bisher Gelebten zu verabschieden. Wenn der Pensionär nur seiner Arbeit und seiner Bedeutung, die er in der Arbeit hatte, nachtrauert,
wird er verstocken und erstarren. Nur wenn er die Arbeit loslässt, wird er sich mit neuem Schwung dem zuwenden, was ihn erwartet. Das kann durchaus auch
eine neue Tätigkeit sein. Aber vor allem ist es der Prozess der Reifung, der im Alter eine neue Form annimmt. Gerade weil der alte Mensch weiß, dass sein
Leben endlich ist, ist es seine Aufgabe, bis zuletzt lebendig zu bleiben, bewusst am Leben Anteil zu nehmen und innerlich offen zu sein für alles, was
sich ihm täglich darbietet. Wenn jedem Anfang „ein Zauber“ innewohnt, wie Hesse in seinem Stufengedicht sagt, dann gilt das für das ganze Leben, bis
zuletzt.
Menschliche
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