Leben Ist Jetzt
seinem Rhythmus und an seinem Leben freuen. Doch sobald er krank wird und
jeden Tag als Last empfindet, erlebt er die Zeit anders. Da möchte er gerne, dass die Zeit zu Ende geht. Allerdings gibt es auch kranke Menschen, die
trotzdem noch am Lebenund an der Zeit hängen. Papst Johannes XXIII. erzählt bei seinem Besuch eines Arbeiterviertels in Rom, er habe
einmal eine alte Frau besucht, die im Sterben lag. Er wollte sie trösten, indem er sagte, dass doch diese Welt, die sie jetzt verlassen müsse, nur ein Tal
der Tränen sei. Darauf richtete sich die sterbende Frau in ihrem Bett auf und antwortete: ¸Aber, Herr Pfarrer, es weint sich doch so schön in diesem Tal
der Tränen!'“ Auch in ihrer Krankheit hing diese Frau noch am Leben: Lieber noch in der Zeit leben, als die Zeit verlassen.
Es gibt Unterschiede im Zeiterleben, je nachdem in welchem Lebenszyklus ich gerade stehe. Aber das Zeitlerleben hängt nicht nur vom
Lebenszyklus ab, sondern auch von der Art und Weise, wie ich mein Leben verstehe und lebe. Wer sich um das Leben betrogen fühlt, der erlebt die Zeit immer
als Last. Dem kann die Zeit nicht schnell genug vorbei gehen. Wer dankbar lebt, der lebt in der Zeit. Der genießt den Augenblick. Und zugleich vergeht ihm
die Zeit so schnell. Weil er bewusst lebt, wird ihm nie langweilig. Er genießt die Zeit und weiß zugleich, dass sie begrenzt ist. Gerade im Wissen um die
Begrenztheit seiner Zeit erlebt er sie mit allen Sinnen, voller Dankbarkeit und Achtsamkeit.
Wer weise ist hat alle Zeit der Welt
In der Jugend geht es vor allem darum, möglichst viel in der Zeit zu erleben. Man neigt dazu, Zeit mit den Erlebnissen zu verwechseln,
die man in der Zeit macht. Je älter wir werden, desto mehr Gespür bekommen wir für den Augenblick, für das Geheimnis der Gegenwart. Wer im Augenblick
lebt, der braucht keine äußeren Erlebnisse, um sich lebendig zu fühlen. Er spürt sich selbst. Und er nimmt seine Umgebung wahr. Da genügt ihm ein
Spaziergang im Wald, um ganz im Augenblick zu sein und ihn zu genießen. Oder es genügt ihm das intensive Gespräch mit einem Freund, um die Zeit zu
vergessen. Oder aber er lässt sich auf die Stille ein. In der Stille der Meditation steht die Zeit still. Da ahnt er mitten in der Zeit etwas von der
Ewigkeit, die in seine Zeit einbricht.
Je älter der Mensch wird, desto mehr wird er sich der Endlichkeit seiner Zeit bewusst. Manche versuchen, die Begrenztheit ihrer Zeit
mit möglichst vielen Aktivitäten aufzufüllen. Sie haben Angst, sie könnten etwas versäumen. Letztlich ist es die Angst vor dem ungelebten Leben, die sie
dazu antreibt, möglichst viel mit der Zeit anzufangen. Doch je mehr sie sich unter Druck setzen, möglichst viel zu erleben, desto weniger erleben sie
wirklich. Sie werden unfähig, im Augenblick zu sein und das, was sie gerade wahrnehmen, mit allen Sinnen wahrzunehmen.
Andere nehmen die Endlichkeit ihrer Zeit zum Anlass, sich ganz dem Augenblick zu widmen. Sie überlegen sich, welche
Spur sie in diese Welt eingraben möchten, was sie dem, mit dem sie gerade sprechen, sagen möchten, was sie ihm an Lebensweisheit vermitteln möchten. Was
ist die Essenz meines Lebens, die ich weitergeben möchte? Solche Menschen könnte man weise nennen: Sie gehen mit ihrer Zeit behutsam um. Sie können die
Zeit genießen. Für sie gibt es nichts Wichtigeres als den momentanen Augenblick. Sie sind ganz gegenwärtig. Sie vermitteln den Eindruck, dass sie alle
Zeit der Welt haben. Weil sie die Endlichkeit ihrer Zeit zulassen, sind sie gelassen, lassen sie die Zeit sein, was sie ist: ein Geschenk Gottes an den
Menschen.
Die erste und die zweite Lebenshälfte
Der französische Moralist Jean de La Brugere hat einmal gesagt: „Die meisten Menschen leben die erste Hälfte ihres Lebens so, dass die
zweite Hälfte nur noch schwieriger wird.“ Da ist etwas dran. Wie wir das Alter erleben, das hängt immer davon ab, wie wir bisher gelebt haben. Wer in der
ersten Lebenshälfte nur das Äußere kennt, nur Geldverdienen, Arbeiten, ein Haus bauen, der wird sich in der zweiten Lebenshälfte schwer tun, wenn das, was
bisher sein Leben ausgemacht hat, wegfällt. Im Alter kann man nicht weiterhin Häuser bauen. Da kann man sich nicht mehr von der Arbeit definieren. Da
zeigt sich, worauf ich mein Lebenshaus gebaut habe.
C. G. Jung bringt noch einen anderen Aspekt, warum sich Menschen die zweite Lebenshälfte erschweren. Wer in der ersten
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