Leben macht Sinn
lebt in der Seele des Betrachters. Dieser Gedanke geht auf den schottischen Philosophen David Hume zurück und bedeutet letztlich, dass nur derjenige, der mit Zuneigung oder Liebe auf einen anderen schaut, dessen Schönheit wahrnehmen und hervorlocken kann. »In deinen Augen werde ich schön«, so drückt es die Dichterin Julia Kristeva aus. Wer mit Liebe angeschaut wird, fängt an zu strahlen, denn was mit Liebe betrachtet wird, ist schön. Ein arabisches Sprichwort sagt: »Das Äffchen ist in den Augen seiner Mutter eine Gazelle.«
Mir kommt immer wieder Albrecht Dürers Bildnis seiner Mutter in den Sinn, das sehr eindrücklich die Liebe zum Gesicht der Mutter mit dessen Zerfurchung durch ihr hohes Alter in Einklang bringt. Ein wunderschönes Bild, das beruhigt und befreit durch die Sorgfalt der feinen Linien, durch Ausgewogenheit, Maß und den Blick eines Sohnes, der seine Mutter mit liebenden Augen sieht.
Jeder Mensch, der mit Leib und Seele in einer Aufgabe aufgeht, wenn er in völliger Übereinstimmung mit dem Tun des Augenblicks verschmilzt, begibt sich an den Ort natürlicher Anmut und Schönheit. Elemente davon finden wir schon in der Tierwelt, im ungebrochenen Instinktverhalten von jungen Katzen oder Hunden; oder bei Kindern, die sich selbst beim Spiel völlig aus den Augen verlieren und im Spiel hier und doch außerhalb der Zeit sind. Hingabe verleiht den Augen einen besonderen Glanz, die Bewegungen werden geschmeidiger und das Gesicht wird weich und offen – egal ob man acht oder achtzig Jahre alt ist. Diese alltägliche Erfahrung von Hingabe und Einklang mit dem, was wir gerade tun – die wir alle kennen, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht –, gehört zu den schönsten Sinnzugängen. Das Schöne lässt sich nämlich gern dort nieder, wo die Märkte der Eitelkeiten schweigen. Zum Beispiel in Empfindungen, die uns beglücken, in Träumen, die uns berühren, in Begegnungen, die uns verzaubern und in diesen unscheinbaren Anblicken: wenn die Libellen über dem Wasser tanzen, wenn eine Fledermaus vorbeihuscht. Schönheit blüht überall dort auf, wo sie nicht verzweckt und missbraucht wird. Sie ist ebenso wenig machbar wie der Sinn. Aber in ihr liegt die Möglichkeit, Sinn zu erfahren – Schönheit hält ihn für uns bereit.
Sinn ist Liebe
Selbst im satten Leben entrinnen wir nicht der Tatsache, dass in uns ein tiefer Wunsch lebt: Wir wollen dazugehören. Allein ist man klein, so heißt es ja auch im Volksmund. Der Wunsch dazuzugehören steht ganz oben auf der Agenda des Sinns. Der Sozialpsychologe Roy Baumeister bestätigt: »Sinn ist ein Werkzeug, um dazuzugehören.«
Teil eines Liebespaares zu sein, ist sicher eine der schönsten Sinn- und Kraftquellen. Natürlich lässt sich nicht verschweigen, dass Liebende einander das Leben mitunter zur Hölle machen – zumindest verdoppelt sich die Gelegenheit zu leiden, wenn man zu zweit ist. Ein Blick auf die vielen Ehestatistiken zeigt, dass Männer emotional mehr von ihren Ehen profitieren, während Ehefrauen – mehr als alleinstehende Frauen – zu psychischen, vor allem depressiven Störungen neigen. Hollis verdanke ich die pikante Einsicht zur Ehe: »Jemanden finden, den man für eine sehr lange Zeit ärgern kann.« Da mag etwas dran sein, denn Glücksräusche verhalten sich nicht proportional zur Intelligenz und weichen mit der Zeit dem Nahkampf in der widerspenstigen Alltagsnähe.Suchen wir womöglich genau den Partner wegen dieser spezifischen Ärgernisse? Freud sprach vom Wiederholungszwang, der uns dazu verleitet, die Geschichte unserer erlebten Beziehungen – selbst wenn sie schmerzhaft waren – zu wiederholen. Es ist eine beachtliche Leistung, Verantwortung für die eigenen dunklen Seiten zu übernehmen und weniger vom anderen zu erwarten und zu fordern. Die Relativierung des Partnertraums entlastet und macht den Blick frei für unerwünschte, aber hilfreiche Wahrheiten: Was wir an anderen hassen, ist das, was wir an uns selbst hassen. Angesichts des Unsinns, den wir selbst produzieren, fällt die Verurteilung anderer schwer. Vielleicht hilft diese Einsicht, den Änderungswahn zu relativieren, in den so viele Partnerschaften verfallen. Einen anderen lieben, heißt, sich selbst verändern zu wollen. Dann kann das, was der Zufall oder die Notwendigkeit zusammengeführt haben, zur Erfahrung werden, wenn jeder bereit ist, sich selbst zu wandeln.
Mit jemandem zusammen zu sein, den man liebt, ist eines der vitalen, schönsten Sinnelixiere.
Weitere Kostenlose Bücher