Leben macht Sinn
einmal fallen zu lassen, wie in die Arme eines geliebten Menschen. Hier findet man Aufgehobensein statt Verlassenheit und Einsamkeit mit sich selbst. Denken Sie als Beispiel dafür an J. S. Bachs berühmte Kantate »Ich hatte viel Bekümmernis«, in der beides zu finden ist: Die Not, die Bach angesichts seiner vielen Verluste erlitt, und die Tröstung, die in den Worten »Deine Erquickungen trösten meine Seele« zum Ausdruck kommt.
Ich erzähle die Geschichte von einem Freund, der einen schweren Unfall überlebt hat. Ihm seien alle Inspirationen für seine Arbeit während des Gehens bei erzwungenen Fußwanderungen gekommen, sagte er. Seit seinem Unfall könne er es nur schwer im Sitzen aushalten. Besser gesagt: Es hält ihn nichts mehr an seinem Platz; sein Gehen hat ihn an neue Orte geführt – weiter, als er je gehofft hat. Er ist in der Lage zu hören, was die Stille auf seinen Fußwegen ihm sagt, was die Steine zu ihm sprechen, und er hört innere Melodien. Er summt vor sich hin und findet so seine eigene Stimme, die ihn mit dem lebenswichtigen Atem verbindet. Aus jedem seiner Sinne sind neue Triebe gesprossen. Er hat sich auf eine neue Art der Welt geöffnet. Für mich kristallisiert sich eine Erfahrung heraus, die ich aus seinen Worten lese: Keiner der Sinne, mit denen wir die Welt erfahren und beeinflussen können, wird abgestumpft oder abgeschwächt, ohne nicht Raum für andere Sinne oder andere Wahrnehmungen zu schaffen.
Musik ist Hinweis auf andere Räume, auf das Überschreitende, das Versprechen der Ganzheit. Wir können singen und uns ausdrücken, ohne in Lösungs- oderSinnzwänge zu verfallen. Auch die verzweifelte Anklage, der ohnmächtige Hilfeschrei, setzt noch voraus, dass es Gehör gibt, dass wir nicht allein sind, dass es Vertrauen gibt. Wir erhalten Resonanz, wenn wir singen, allein schon dadurch, dass wir dabei eine Botschaft über uns selbst, an uns selbst und an die anderen geben.
Denken wir an die tiefe emotionale Wirkung, die von den Interpretationen der Sängerin Maria Callas ausging, so erübrigt sich der Disput über diese oder jene Bedeutung der Musik. Sie hat nicht nur Rollen gesungen, sondern auf der Rasierklinge gelebt, so beschrieb es Ingeborg Bachmann. Musik ist Offenbarung gelebten inneren Lebens. Man könnte sogar sagen, dass sie die Natur unserer Gefühle in einer Weise offenbart, der die Sprache nicht nahekommt. Wir kommen mit der Musik in größere Räume, egal ob wir singen, spielen oder hören. Wir sind nicht mehr allein. Eine andere Art von Hinhören, von Dahinterhören und Dazugehören entsteht. Wir werden durchlässiger. Dies nimmt der Verzweiflung über die eigene Machtlosigkeit ihre Spitze. In der Musik weiß ich, dass ich nicht mein eigener Sinngeber und Retter sein muss. Ich kann das, was noch nicht da ist, herbeisingen, und das, was schon da ist, in seiner Schönheit loben und wertschätzen. Und das gibt meinem Leben Spiel und Leichtigkeit. Der Schraubstock des Überwältigtseins durch eigene Fehler, durch die blinde Ungerechtigkeit des Schicksals, die Sinnlosigkeit oder die verlorene Liebesmüh lockert sich um zwei Drehungen. Nicht nur nach außen, auch nach innen hin lässt der Druck nach. Vielleicht ist das die große Kunst, die wir der Musik verdanken: Wir müssen das Leben nicht im Griff haben, wir müssen nicht ständig im Rennen sein, wir müssen nicht Richter oder Zeigefingerheber für uns selbst sein. Wir dürfen einInstrument sein im großen Orchester, wir müssen nicht das Orchester sein. Wir dürfen unsere eigene Melodie spielen, wie es Isaac Stern in dem Film »Von Mao zu Mozart« zu einer jungen virtuosen Geigerin sagte. Wir sollen also kein besseres, höheres oder schnelleres Lied spielen als die anderen, sondern eines, das das ureigene ist, das den eigenen Sinn ausdrückt. Ein schlichtes Lied, das im Kern lautet: Ich bin, wer ich bin. Nicht mehr und nicht weniger.
Sternstunden des Sinns
Jeder hat sie schon erlebt, die Sternstunden der Sinnhaftigkeit, die wir oft erst im Nachhinein erkennen, wenn wir sagen: »Das hat tiefen Sinn gemacht!« Es müssen nicht atemberaubende Liebesnächte, aufrüttelnde Begegnungen, überraschende Glücksfälle oder umwälzende Neuanfänge sein. Oft kommen sie unspektakulär daher, wenn wir ein Kind beobachten, wie es selbstvergessen spielt; wenn wir die Spuren eines gemütlichen Abendessens wegräumen und uns voller Dankbarkeit nochmals rückbesinnen; oder wenn wir morgens vor das Haus treten, dem Gesang einer
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