Leben macht Sinn
Wem das nicht gegeben ist, dem bleiben immerhin Kontakte, Begegnungen mit anderen, andere Gesichter, andere Geschichten, andere Gerüche – einfach, um sich selbst nicht verloren zu gehen. Man muss sie ja nicht lieben. Aber man braucht »Fellpflege«, Berührung, Blicke. Man könnte naiv fragen: Warum genügt die Arbeit nicht, warum sind die anderen so wichtig für uns? Weil sie uns menschlich machen und menschlich halten. Jede Begegnung – ob Nachbarn, Kinder, Fremde, Kollegen oder Geliebte.
Es müssen nicht viele sein, und es müssen auch nicht ständig neue sein. Ob nun zehn oder hundert Namen mit Telefonnummern im Adressbuch stehen, darauf kommt es nicht an. Letzteres ist ohnehin anstrengend, weil dasLeben nicht als Party gedacht ist, auf der man sich ständig neu präsentieren muss. Sinnvoller und nährender ist ein Mehr an Tiefe und die Zuverlässigkeit von vertrauten Beziehungen. Vielleicht genügt es, den Menschen, denen man nahe steht, einfach mehr Aufmerksamkeit und Beachtung zu schenken, dankbar zu sein für die strahlenden Augen und die tröstenden Gedanken eines Nächsten, das Schnurren der Katze auf dem Sofa oder das vertraute Geräusch eines Nachbarn, der gerade seinen Kaffee kocht.
Jede Beziehung, der sich jemand widmet, überschreitet, ob er es weiß oder nicht, die Grenzen seines persönlichen Sinns. Gelebte, geschaffene, gewählte Beziehungen, wie bescheiden sie auch aussehen mögen, betreffen nie nur uns selbst. Sie stehen in Verbindung mit der ganzen Wirklichkeit. Das bewusste Wahrnehmen dieser gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Mikro- und Makrokosmos, auf der letztlich jede Gesellschaft gegründet ist, wäre ein wesentlicher Schritt heraus aus dem Un-Sinn und der Gleichgültigkeit, die so viele beklagen. In den archaischen Kulturen gab es diese Korrespondenz zwischen Mensch und Universum: das Bewusstsein, dass jede Begegnung sinntragend war. Für uns mag das überholt klingen, dennoch lebt in uns diese Sehnsucht weiter, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Selbst in der prosaischen Alltagswirklichkeit: wenn wir einander grüßen, »Wie geht’s?« fragen, Feste feiern, Kranke besuchen, Gesundheit wünschen, einander trösten, streicheln und umarmen.
Mehr vom Nährenden, mehr vom Hinschauen, mehr vom Berühren, mehr vom Vertrauen – also genau das, was die Medien nicht liefern, ist es, was wir benötigen. So wie ein Kind ein ganzes Dorf braucht, um zu gedeihen, brauchen die Erwachsenen viele Augen, viele Ohren, viele Hände. Selbst wenn wir verliebt sind und uns alle anderen,außer dem einen magischen Wesen, blass und langweilig erscheinen, lohnt es sich dennoch, die vertrauten »Schwarzbrot-Freunde« weiter zu genießen. Wache Augen für den Liebeskummer eines Freundes haben, sich an Namenstage, Geburtstage oder Gedenktage erinnern, zupacken, wenn Not am Mann ist, spontan an die Türe klopfen bei den Schüchternen, und die aufmuntern, die es am nötigsten haben. Manchmal wird die Welt nur durch eine winzige Geste zu einem freundlichen Ort für jemanden. Manchmal rettet ein einziger Satz. Oder ein Blick.
Wir laden Sinn ein, wenn wir uns öffnen für die vielen Wege, die die Liebe kennt. Vielleicht wurde uns beigebracht, dass der einzige Sinn oder das Ziel von Liebe ein respektabler, aufgeräumter Haushalt sein sollte. Aber Liebe kommt in vielen Gewändern und Gestalten. Eine zugelaufene Katze, ein schwer kranker Kollege, ein trauernder Nachbar, ein weinendes Kind, eine Enkelin, die Erholung von den Eltern braucht, ein Freund, der sich gerade getrennt hat, ein Bruder, der Unterschlupf braucht.
Liebe ist nicht immer da, wenn wir sie brauchen, und wenn wir sie schenken sollten. Sie lässt sich nicht herbeizitieren oder willentlich abrufen. Aber wir können unsere Türen und Herzen offen lassen. Offen bleiben für das Ungeplante, Unerwartete, Ungewöhnliche, Sensible, Seltene, Seltsame. Liebe ist nicht bequem und manchmal auch irritierend, aber sie formt unser Leben zu überraschenden, eigenwilligen Mustern und Landschaften, die uns nahe an den Sinn unseres Lebens bringen.
Spielerisch Sinn erfahren
Für manche ist es das Wort, die Malerei oder die Musik, die ihnen das Vertrauen gibt, dass sie nicht allein sind, dass es Sinn gibt, auch in sinnarmen Zeiten. Selbst wenn ihnen der Sinn dessen, was sie in kargen Zeiten durchleiden, entgeht, so gibt es für sie dieses Aufgehobensein in diesem eigensinnigen Raum zwischen Innen und Außen, in dem sich Realität und Phantasie, Wirklichkeit und
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