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Leben macht Sinn

Leben macht Sinn

Titel: Leben macht Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irmtraud Tarr
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Illusion miteinander verbinden. Ein Zwischenraum, den jeder auf die eine oder andere Art schon einmal kennengelernt hat. Nicht nur zu besonderen Zeiten, auch im Alltag finden wir ihn, wenn wir beispielsweise beim Waldlauf tagträumen, die Musik fallender Regentropfen hören, eine Sandburg bauen, ein Klavierkonzert hören, die Stille einer Kirche in uns aufnehmen oder ein Glas Rotwein genießen. Haben wir nicht alle schon einmal die Feststellung gemacht, dass uns solche Erfahrungen das Vertrauen in das Rettende wieder schenken, wie jene kleinen Zettel, die wir einander zuschieben, um uns gegenseitig mit Worten wie: »Mach’s gut!«, »Es wird alles gut!«, »Ich denk an Dich!«, oder »Ich bete für Dich!« zu ermutigen und zu ermuntern? Ähnlich wie früher,wenn wir uns heimlich Zettel unter der Schulbank zuschoben?
    Was ist eigentlich dieses Zaubermittel dieses Zwischenraumes, der uns so wohltuend bewegt, stärkt und uns wieder vertrauen lässt, dass es Sinn gibt? Am sinnreichsten lässt sich das am Beispiel der Musik beantworten. Musik ist in der Lage, etwas in uns zu öffnen und in Schwingungen zu versetzen, das sonst unberührt geblieben wäre. Wie kaum ein anderes Medium berührt Musik unser Herz. Sie spricht unsere Emotionen unmittelbar an, ohne Heilsversprechen und Manipulation, weil sie in ihrem Kern zweckfrei und in sich selbst genug ist. Vielleicht ist es sogar gerade das ganz Andere, Unberechenbare, Nutzlose, das ihren Sinn ausmacht. Musik ist für uns da wie die Sonne, der Mond, die Sterne, die Bäume und der Wind. Sie bewegt uns und unsere Sinne, weil sie in sich Sinn ist.
    Insofern sind wir alle Musiker. Selbst diejenigen, die sagen: »Musik sagt mir nichts.« Sie unterliegen höchstens dem Irrtum, zu meinen, Musik sei konkrete Mitteilung. Je intellektueller wir ausgerichtet sind, desto mehr brauchen wir sie. Nicht als Ausgleich oder Gefühlsduselei, sondern überhaupt, um das Hören zu lernen. Und weil Musik das Herz weicher macht. Es ist eine einzigartige Gabe, die die Musik bereithält, weil sie Bewegung ist und uns bewegt, aus der Verhärtung löst, weich macht und damit wärmer, sinnlicher. Musik sensibilisiert uns dafür, wie wir sein könnten, weil wir noch nicht so sind, wie sie es verspricht. Sie gibt jedoch hörbare Zuversicht, dass wir einmal so sein werden. Nicht aus Optimismus oder Ignoranz, sondern weil sie unsere Hoffnungssuche auf Sinn wachhält.
    Ob beim gemeinsamen Singen, beim Orchesterspiel, der Jazzformation, der Rockband oder derImprovisationsgruppe: Wenn wirklich geübt und nicht nur das schnelle Glück des Auftritts gesucht wird, erleben Menschen sich als gemeinsam Lernende unter etwas Größerem vereinigt und in einen größeren Sinnzusammenhang eingebunden und in ihm aufgehoben. Solche Augenblicke geben uns eine Ahnung davon, was Sinnerfahrung konkret sein könnte. Was es heißt, ein spielerisches Terrain zu haben, auf dem Verschiedenheiten und Eigenheiten ihren Raum haben dürfen, auf dem individuelle Schwächen gemeinsam getragen und persönliche Stärken für die Gemeinschaft fruchtbar gemacht werden, und auf dem nebenbei etwas entsteht, was tiefen Sinn macht: Freude.
    Musik ist die eigentliche Muttersprache des Sinns. Musik kann unsere Nöte, unsere Ängste forttanzen und fortsingen. Musik ist der »Ruf ins Entbehrte«, wie Ernst Bloch sagte. Und sie ist ein Ausgriff in die Fülle. Was noch nicht da ist und wonach wir uns sehnen, können wir herbeisingen und herbeispielen. Auch wenn sich nur Mund und Hände bewegen und unser Herz noch nicht beteiligt ist, so ist das ein Weg, sich von außen nach innen aufzumachen, sein Herz zu öffnen. Manchmal schleifen unsere spielenden Hände, unser singender Mund unser Herz hinterher. »Wohlauf mein Herz und singe«, heißt es. Manchmal ist es zuerst der Mund, der singt, bis die Seele nachkommt. Man denke an die folgende Indianergeschichte: Auf einer Wanderung legt sich ein Indianer nach jeder Etappe auf den Boden und lässt sich nicht zum Aufstehen bewegen. Er müsse warten, bis seine Seele nachkommt, ist seine Antwort. Auch wir müssen warten, bis unsere Seele nachkommt. Deswegen brauchen wir unseren Mund und unsere Hände, die vorangehen und das herbeisingen oder spielen, was sich unser Herz erträumt und wonach es sich sehnt.
    Musik ist die Brücke zwischen Hier und Dort. Anders als die Malerei bringt sie uns unmittelbar in Verbindung mit dem, was uns überschreitet. Wir brauchen sie, weil sie uns ermöglicht, uns ganz einfach

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