Leben macht Sinn
engagierte Menschen sind, die sich für ein Projekt oder eine Idee einsetzen und zur Verfügung stellen. Für Frankl war das Engagement für Natur, Kunst, Gerechtigkeit und Religion existentiell wichtig. Er meinte, wenn Menschen nur sich selbst sehen, sich nur an sich orientieren, statt sich hinzugeben und zu vergessen, ist ihre Wahrnehmungsfähigkeit gestört. Er vergleicht dies mit dem Auge, das sich selbst nicht sehen kann. Er meint damit, dass wir voll und ganz bei uns sind, wenn wir in einer Aufgabe aufgehen und unsere Energie für sinnvolle Ziele ausgeben. Wer sich in diesem Sinn aus den Augen verliert, begibt sich dorthin, wo sein wahrer Platz ist – im Herzen der anderen, im Herzen der Dinge und gleichzeitig im eigenen Inneren.
Sinn ist das Wahre
Zu werden, wer wir sind, ist bestimmt keine leichte Sache. Wohl eher ist es der verborgene Sinn eines zu erreichenden Zieles. Es macht einen Unterschied, ob man sich erträgt, erduldet und etwas über sich weiß, oder ob man sich wirklich kennt und leidenschaftlich lebt: Ich bin, der ich bin. Unter allen Optionen die eigene zu wählen. Sich dorthin zu wünschen, wo man ist. Sich annehmen, wie man ist – das könnte eine Zauberformel für Sinn sein.
Wer aber überall dabei ist und in alles involviert ist, hat nicht die Energie, sich selbst wahrzunehmen. Und das heißt, prägnant zu werden, kenntlich zu werden, eigene Gesichtszüge anzunehmen, der eigenen Wahrheit auf die Schliche zu kommen. Und das heißt – sich zu unterscheiden. Die Unterschiede sind es, die uns füreinander interessant und spannend machen. Wir wollen nicht lauter Kopien begegnen, sondern wir brauchen die Reibung der Verschiedenheit, des Andersseins und die Würze der Abweichungen. Nur so begreifen wir uns als das, was wir alle sind – Unikate. Die Lust auf mehr Eigensinn, das heißt weniger Anpassung, ist in Wahrheit das Eingangstor für Sinn im Denken, Fühlen und Handeln.
Die Lust auf weniger Anpassung führt nicht nur über das Handeln, sondern auch über unsere Äußerungen. Auch sie sind ein Weg, zu erfahren, wer wir sind. Sei es das Schreiben oder das Sprechen, es lohnt sich, die eigenen sprachlichen Äußerungen zu überdenken. Was sage ich? Wem sage ich was? Was lasse ich aus? Was wiederhole ich ständig? Was sind meine Lieblingsausdrücke? Sagen, was man denkt, bedeutet Unabhängigkeit. Jeder kann sich dieses Ziel stecken, auch wenn es vielleicht leichter gesagt als getan klingt. Aber es hat mit der Wiederentdeckung fast abhanden gekommener Spielräume zu tun: die eigenen Räume des Hörens, des Zuhörens, des Hinhörens. Vielleicht bekamen sie zu wenig Nahrung, weil zu viel Schweigen war, oder wurden zu wenig gepflegt, weil man aneinander vorbeiredete. Sie lassen sich wiederentdecken, zum Beispiel durch das Hinhören.
Üben kann man es an kleinen Eindrücken: der Gesang der Vögel, die Regentropfen, die auf das Dach fallen, das Rauschen der Bäume, das Klirren der Gläser, Glockengeläut. Unterwegs: Stimmen, Kinderstimmen, alte Stimmen, Gesprächssequenzen, Satzmelodien, Sprechrhythmen, modulierende Klänge und der unausgesprochene überall vernehmbare Ostinato: Hörst du mich?
Ich denke dabei an eine junge Frau, die bei allem, was sie begeisterte, »abartig« sagte. Ist das nicht eigenartig, dass jemand ein Wort aus der Psychiatrie verwendet, um seinem Hochgefühl Ausdruck zu geben? Heißt es, dass Begeisterung Verrücktsein bedeutet? Zumindest lernen wir aus unseren Äußerungen, wie sich das Unbewusste seinen Weg nach außen bahnen will, und wir erfahren, wenn wir uns zuhören, was uns wichtig, wertvoll und heilig ist, oder wo wir uns einem Entgegenkommen oder einer Verantwortlichkeit entziehen. Dabei denke ich an die vielen Einleitungsformeln »Ich schätze mal«, »Man könnte sagen«,oder die alte Teenagervariante »Keine Ahnung«, die eines gemeinsam haben: Sie weichen der Festlegung, der Selbstverpflichtung und dem Entgegenkommen aus. Passive Sprache, die den anderen allein lässt und dazu zwingt, sich selbst eine Antwort zusammenzureimen.
Nicht immer kommen wir unserem Eigensinn direkt auf die Spur, zumal Sinn oft untergründig, unbewusst, vorbewusst am Rand des Bewusstseins nistet. Dennoch ist es ein Schritt in Richtung Verantwortlichkeit, sich selbst zuzuhören, weil es ein Schritt in Richtung Besinnung bedeutet. Das kann, wie jeder weiß, sehr nützlich sein, denn ohne Besinnung – kein Sinn.
Erst mit etwas Abstand, wenn wir uns besinnen, geht uns allmählich ein
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