Leben macht Sinn
sich in Kunstwerken aus Holz, Metall, Stein oder Papier sammelt, Schönheit, die sich in Klängen, Tönen, Worten, Farben und Düften ausdrückt. Was wäre, wenn es plötzlich keine Musik, keine Bilder, keine Gedichte, kein Theater, keine Plastiken mehr gäbe? Eine Welt, die das Schöne verbannen würde, wäre für mich eine unmenschliche, entsinnlichte Welt.
Schönheit ist die Schwester des Sinns. Auch sie ist durchtränkt mit unseren Sehnsüchten nach Harmonie, Maß und zeitenthobener Dauer. In der Schönheit erleben wir etwas, wovon wir träumen: die Harmonie zwischen dem Ich und der Welt, zwischen Innen und Außen. Es gibt Momente, in denen wir Innen und Außen als völlig kongruent erleben, Momente, in denen die gewohnte Diskrepanz zwischen dem Ich und der Außenwelt aufgehoben erscheint: Momente absoluter Stimmigkeit. Wenn beispielsweise eine Mutter mit den Fingern ganz zärtlich das Haar ihres Kindes streichelt, oder wenn zwei Liebende einander ihre Liebe gestehen. Aber auch beim Anblick einer sich öffnenden Blüte, der im Meer verschwindenden Sonne oder eines prägnanten Gesichtes, das uns dazu verleitet, es wieder und wieder anzuschauen. Das sind die Momente, die uns daran erinnern, dass es ein Leben gibt, das auch ganz stimmig sein könnte. Momente, die aufscheinen lassen und unsere Ahnung bestätigen, dass das was ist, nicht alles ist. Momente gesteigerten Lebens, die uns versprechen, dass es das gelungene Leben gibt.
Diese Stimmigkeit, die wir im harmonischen Zusammenspiel von Farbe, Form, Gestalt, Klang und Wort erleben, kann sich auch auf uns selbst übertragen und in uns wieder dieses Gefühl von Stimmigkeit wachrufen. Ich denke dabei an eine unter Depressionen leidende Frau, die nach dem Besuch eines Vokalkonzertes des englischen Hilliard Ensembles plötzlich spüren konnte: »Diese Musik hat mich innerlich aufgeräumt. Als hätte sie einige Schichten von Schlacke über meiner Seele weggeputzt. Danach hatte ich plötzlich wieder einen Funken Hoffnung.« Nie zuvor hatte ich sie so poetisch sprechen gehört: »Ihr Gesang hat das Unendliche im Endlichen ausgedrückt«, »da war Glanz zwischen den Tönen«, »so muss es im Himmel klingen.« Schönheit wirkt so von außen nach innen. Sie verweist auf etwas Höheres, auf dieses Mehr, nach dem wir uns sehnen. Sie lässt sich nicht festlegen oder normieren, sie ist unwiderstehlich und unvergleichlich. Das Schöne, sagt Platon, weist über sich hinaus. Es hebt uns über den Augenblick hinaus. Plötzlich erleben wir, wie die oben geschilderte Frau es so treffend beschrieb, das Leben in Sinn gefügt, stimmig, geordnet. Alles tritt zusammen zu einem harmonischen, inneren Bild, das Sinn macht.
Vor diesem Hintergrund ist auch der Satz von Rilke: »Du musst dein Leben ändern« zu verstehen, den er beim Anblick der überwältigenden Schönheit einer Apollo-Statue niederschrieb. Die Macht der Schönheit erfüllt uns mit Ahnungen, Gefühlen und Versprechungen; mit einer Welt, die anders ist als die, in der wir uns bewegen. Wer sich von ihr ergreifen lässt und sich auf sie einlässt, ist ein anderer als vorher. Vielleicht ist es ein untrügliches Zeichen von Schönheit, dass sie innere Veränderung und Erweiterung auslöst, wenn wir uns für sie öffnen. Insofernist eine schöne Ausstellung oder eine geglückte Theatervorstellung eine, die etwas in uns in Bewegung bringt, so dass wir nach einer solchen Erfahrung anders weggehen, als wir hingegangen sind. Schönheit steht im Dienst des Lebendigen, des Vorwärtsgehens. Ohne sie hätten wir Stillstand.
Jeder, der Schönheit erkennt, baut auch an ihr mit. Das Schöne ist nicht gegenwärtig, wenn wir es nicht mit unserem wertschätzenden Blick und unserer erkennenden Phantasie wahrnehmen. Die Schauspielerin Sophia Loren hat einmal gesagt: »Nicht die Schönheit entscheidet, wen wir lieben, sondern die Liebe entscheidet, wen wir schön finden.« Es gibt zwar objektiv messbare Standards, aber dennoch bleibt das, was wir schön finden, sehr subjektiv. Es ist sogar abhängig von unserer Tagesform: Je nachdem ob wir einen guten oder schlechten Tag haben, ist unser Blick großzügig oder eben eng, hart und sezierend. »Sich jemanden schön trinken«, so lautet eine Redewendung, die durchaus einen wahren Kern hat. Denn Schönheit ist in der Tat relativ, was auch tröstlich ist, denn wenn alle das gleiche Schönheitsideal hätten, wäre die Partnersuche ein Spiel, bei dem es fast nur Verlierer gäbe.
Die Schönheit der Dinge
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