Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Seite des Wohndreiecks aus dem Dach ein schlanker, spitz zulaufender Backsteinturm in die Höhe. Ein Wahrzeichen, das Schönheit und Symbolkraft verkörpert. Auch Michel de Klerk war erfüllt von sozialistischen Visionen und überzeugt, dass ein ästhetisches Wohnmilieu mitbaut an der besseren Welt für die Arbeiterklasse. Es ist, als ob die Fassaden der Häuserfronten Wellen schlugen, die Ecken biegen sich zu Rundungen. Der gesamte Wohnungskomplex, in dem eine Arbeiterwohnung als kleines Museum erhalten wurde, ist einen Straßenbahn-Ausflug an den westlichen Stadtrand wert.
Dass Vorbereitung und Durchführung der internationalen Konferenz für Monne de Miranda viele Überstunden bedeuteten, war ihm recht. Die Arbeit half ihm hinweg über den Abgrund an Schmerz, den der Tod seiner Frau Selly Elion im Februar 1923 aufgerissen hatte. Siebzehn gute Ehejahre hatten sie zusammengelebt. War de Miranda auf Parteitagen oder Auslandsreisen, schrieb er ihr lange Briefe, oft von einem Blumenstrauß begleitet. Selly Elion wurde auf dem alten jüdischen Friedhof in Ouderkerk an der Amstel begraben und daneben ließ ihr Ehemann eine Grabstelle auf seinen Namen reservieren. Auch wenn der Jude Monne de Miranda seit Jahrzehnten keine Synagoge mehr betrat, hatte er nicht vergessen, wo seine Wurzeln lagen.
»Heute muss ich nach Amsterdam, um ein Stündchen an der Feier der Portugiesisch-Israelitischen Kirche teilzunehmen«, schrieb de Miranda Ende Juli 1925 aus seinem Urlaubsort in Nordholland. Gemeint war die prächtige sefardische Synagoge zwischen Mr. Visser- und Jonas Daniel Meijerplein, wo die jüdische Gemeinde zusammen mit dem christlichen Amsterdam den zweihundertfünfzigsten Jahrestag der Einweihung feierte. Der Beigeordnete für Wohnungsbau de Miranda war ins Ehrenkomitee berufen worden. »Mein Besuch in der Portugiesisch-Israelitischen Kirche rief sehr gemischte Gefühle in mir wach«, heißt es weiter im Brief. Drei Stunden dauerte die Zeremonie: »Jedes Lied war mir bekannt und ich verstand das Hebräisch noch ziemlich gut. Beim Hinausgehen bat man mich, morgen einfach zum Gottesdienst wiederzukommen, ich würde dann auch den alten Familienplatz einnehmen können. Doch ich musste sie enttäuschen.« Seine Gefühle, fügte er hinzu, gingen unverändert, ja eigentlich noch stärker in eine anti-religiöse Richtung.
Monne de Miranda: der sozialdemokratische Politiker förderte den modernen Wohnungsbau in der Hauptstadt
Der sehr persönliche Brief war adressiert an die dreiunddreißigjährige Wilhelmina Titia Timmerman, Sonderschullehrerin in Amsterdam. Als letzten Urlaubsgruß schrieb der Fünfzigjährige an seine »liebe Mientje«: »Ich sehne mich nach unseren gemütlichen und intimen Abenden.« Nach dem Tod seiner Frau hatte de Miranda seine Tochter Janny jeden Morgen selbst in die Sonderschule gebracht und war dort mit der Lehrerin Timmerman ins Gespräch gekommen, eine selbstbewusste, unverheiratete Frau, nicht jüdisch. Am 1. Mai 1926 heirateten Monne de Miranda und Wilhelmina Timmerman im Amsterdamer Rathaus und begaben sich noch am selben Tag auf die Hochzeitsreise nach Paris. Zwei Kinder wurden geboren, 1927 und 1928; Wilhelmina Timmerman, verbeamtet, blieb bis 1931 berufstätig, eine ungewöhnliche Entscheidung. Noch im gleichen Jahr verordnete der Gesetzgeber, dass eine Beamtin, die heiratet, am Tag der Hochzeit entlassen wird. Sie hatte nun einen Ernährer und der Arbeitsmarkt eine weitere freie Stelle.
1926 zog der Beigeordnete für den Wohnungsbau im Rat der Stadt Amsterdam Bilanz: Rund 39 000 Wohnungen waren seit 1921 gebaut worden, eine stolze Zahl. Im Mai 1927 ging der Reigen der feierlichen Grundsteinlegungen weiter, denn die Hauptstadt bereitete sich auf ein weltweites Großereignis vor: In Amsterdam Zuid, wo ein neues Stadtviertel entstand, legte Prinz Heinrich, Ehemann von Königin Wilhelmina, den ersten Stein für ein modernes Sportstadion. Amsterdam hatte den Zuschlag für die Neunten Olympischen Spiele der Neuzeit erhalten. Entworfen wurde der Bau von einem Architekten der Amsterdamer Schule, das Betonskelett ist mit zwei Millionen roten Backsteinen verkleidet. Auf den Tribünen im ovalen Innenraum finden 40 000 Besucher Platz. Wahrzeichen ist der sechsundvierzig Meter hohe Turm am Eingang des Marathontors.
Am 28. Juli 1928 marschierten 2606 Männer und 277 Frauen hinter den Fahnen aus 46 Nationen durch das Marathontor ins Innere des Olympiastadions. Erstmals wird das Olympische Feuer
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