Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Titel: Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Beuys
Vom Netzwerk:
ihr die hebräische Bibel mit den Psalmen nahe und die Geschichte des jüdischen Volkes vertraut. Der königliche Besuch soll sichtbar machen: Die Juden in den Niederlanden gehören zum Vaterland.
    Bei allem Pluralismus und aller religiösen Toleranz besetzten die christliche Gemeinde und die Familie in der Gesellschaft der Niederlande eine zentrale Rolle. Dieser Kern der Lebens- und Weltsicht wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfolgreich der modernen Massenkultur angepasst und strukturierte die niederländische Gesellschaft und Politik bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts.
    1879 ist das Jahr, wo sich der gesellschaftlich-politische Beginn einer Entwicklung konkret fassen lässt, die die Historiker als »Versäulung« bezeichnen. »Souveränität im eigenen Kreis« hieß Abraham Kuypers griffige Parole, die den Staat nur als Ordnungsmacht für übergreifende Aufgaben anerkannte. Um dies durchzusetzen, gründete der reformierte Pfarrer Abraham Kuyper die erste politische Partei der Niederlande: die Antirevolutionäre Partei ( ARP ). Ihr Programm weist zurück in die Vergangenheit: gegen die Aufklärung, gegen den liberalen Zeitgeist, gegen ein allgemeines Wahlrecht, zurück zu den Wahrheiten der Bibel, an denen keine Kritik geübt werden darf. Wähler der ARP waren vor allem die kleinen Leute, die Angst vor dem Neuen hatten, und in »Abraham dem Gewaltigen« einen verlässlichen Führer sahen.
    Der Pastor und Staatsmann verfolgte sein rückwärts gewandtes Ziel mit modernsten Mitteln. 1872 schon hatte Kuyper De Standaard gegründet, eine professionell gemachte Zeitung, die das Programm der ARP erfolgreich in alle Winkel des Landes trug. 1892 tat der von seiner Mission überzeugte Pastor Kuyper einen radikalen Schritt: Er spaltete die traditionsreiche Reformierte Kirche der Niederlande (Hervormde Kerk), weil sie angeblich dem Zeitgeist opferte, und gründete mit seinen Anhängern die Reformierten Kirchen der Niederlande (Gereformeerde Kerken in Nederland). Von 1901 bis 1905 war der glänzende Redner und Organisator Kuyper Ministerpräsident der Niederlande.
    Kuypers Motto von der Souveränität im eigenen Kreis setzte sich durch. Innerhalb der Gesellschaft schälten sich schnell vier »Säulen« heraus, die Souveränität, also Nichteinmischung in die Belange ihrer Gemeinschaft, friedlich durchsetzten: die Protestanten – die Katholiken – die Sozialisten – die Liberalen. Die jüdische Bevölkerung war zu klein für eine eigene Säule; sie schloss sich den Sozialisten oder Liberalen an.
    Bis zur Jahrhundertwende gründeten sich nach dem Modell der ARP eine Römisch-Katholische Partei und weitere protestantische Klein-Parteien. Den konfessionellen Parteien gegenüber stand die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, irgendwo dazwischen die liberalen Wählervereinigungen. Nach Einführung der allgemeinen und freien Wahlen 1919 bildeten die Parteien der Protestanten, Katholiken und Liberalen in den zwanziger Jahren als Koalition die Reichsregierung in Den Haag; die zweitstärkste Partei, die Sozialdemokraten, blieb vom nationalen Machtkartell ausgeschlossen. Doch in der Gemeindepolitik galt dieses Koalitions-Tabu nicht. In den Städten, allen voran in Amsterdam, wurden die Sozialdemokraten eine starke politische Kraft und regierten entschlossen mit. Was die »Souveränität im eigenen Kreis« betraf, konnten die Arbeiter mit den drei anderen Säulen konkurrieren.
    Protestanten, Katholiken, Sozialdemokraten und Liberale organisierten gemäß der Parole von Pastor Kuyper das Leben ihrer Mitglieder von der Wiege bis zur Bahre im jeweils eigenen Milieu und kulturellen Umfeld. Die Katholiken gingen katholisch turnen, katholisch wandern und tanzten katholisch Walzer. Die Arbeiter waren Mitglieder in Arbeiterchören, Arbeitermandolinenvereinen und Arbeiterbibliotheken. Die Protestanten hatten ihren protestantischen Schwimm- und Ruderverein. Es gab katholische Metzgereien und sozialistische Bäckereien. Jede Säule hatte ihre eigenen Zeitungen. Abschottung wurde zum Lebensprinzip. Auch Berufsverbände, Lebensversicherungen und medizinische Versorgung waren strikt auf die jeweilige Säule ausgerichtet. Selbst das Rote Kreuz war vierfach gespalten: Weiß-gelb stand für die Katholiken, orange-grün für die Protestanten, grün für die Liberalen, rot für die Arbeiter.
    Das hatte Folgen: Leben und Ausblick auf die Welt waren von religiösen oder weltanschaulichen Standpunkten und Werten durchtränkt, die Neugier auf fremde

Weitere Kostenlose Bücher