Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Stuart und Lia Dorana, beide als Sängerinnen, Schauspielerinnen und durch das Kabarett bekannt und beliebt.
Das Jahr 1943 endete so gegensätzlich, wie die Amsterdamer, Juden und Nichtjuden, in den vergangenen zwölf Monaten das Leben erfahren hatten. Am 15. Dezember hoben die Deutschen die »Sperre« für Walter Süskind, seine Frau und seine kleine Tochter auf. Die Familie, 1936 als deutsch-jüdische Emigranten in die Niederlande gekommen, musste Amsterdam in Richtung Lager Westerbork verlassen. Am 16. Dezember lief wieder eine Ausweis-Kontrolle der »Grünen« im Theater Royal, um niederländische Männer zu packen, die sich dem Arbeitsdienst entzogen. Am Ersten Weihnachtstag feierte im Bellevue-Hotel der Amsterdamer Frauen-Fahrradclub sein fünfundvierzigjähriges Jubiläum.
30. Dezember – In Westerbork notierte Philip Mechanicus, der getreue Chronist des Lagers, in seine Tagebuchhefte: »Transport von achtzig Mann aus Amsterdam, fast nur Untergetauchte.«
XIII
Mutlos – NSB-Kampagne – Hawaii-Musik eingeschränkt – Das Drama der portugiesischen Juden – Gerrit Jan van der Veen scheitert – Im Stimmungshoch der Invasion – Der Terror steigert sich – Brüssel ist befreit
Januar bis 4. September 1944
Es ist wohl eine der schwersten Übungen im Leben: das Gleichgewicht zu halten. Zwölf Monate zuvor, als das vierte Jahr unter deutscher Besatzung begann, lag unter der dicken Schicht Skepsis noch eine Portion Hoffnung: 1943 würde die Invasion der Alliierten die Kriegswende bringen, die Niederlage der Deutschen und damit das Ende der Schreckensherrschaft. Solcher heimlicher Optimismus war bei der großen Mehrheit der Niederländer am Beginn des Jahres 1944 aufgezehrt. Die Stimmung besserte sich auch nicht, als die Tage endlich länger und der Frühling spürbar wurde. Zwar hörte man abends auf BBC oder Radio Oranje von der erfolgreichen Offensive der russischen Armeen und dem Rückzug der deutschen Wehrmacht im Osten. Aber wo blieben die Truppen der Alliierten an den westlichen Küsten? Ohne eine zweite Front im Westen Europas war kein Ende des Krieges in Sicht.
In seinem Tagebuch schreibt Hendrik Jan Smeding, der Amsterdamer Lehrer: »Viele können nicht mehr, und geben innerlich auf, selbst wenn sie glauben, dass Deutschland am Ende besiegt wird.« Das Stimmungsbild entspricht einem Polizeibericht in Amsterdam vom Frühjahr, der feststellt, dass die Menschen »fast nicht mehr vom Krieg« sprechen. Im Mittelpunkt stehen die »Schwierigkeiten der Lebensmittelversorgung«, die aber weder »Widerstandsgeist noch eine rebellische Unzufriedenheit« auslösen.
Nach Rebellieren ist den meisten Amsterdamern nicht zumute, aber weiterhin nutzen sie jede Gelegenheit, dem stundenlangen Anstehen für Brot, Kartoffeln und »Ersatz«-Mitteln aller Art oder der vergeblichen Suche nach einem Paar Schuhe etwas zur Aufmunterung entgegenzusetzen. Es tat wohl, im großen Saal des Concertgebouw mit der Musik in eine andere Welt zu tauchen. Im Februar war es sogar eine Welt, die mit der deutschen Besatzung, die Komponisten der »Feindstaaten« nicht duldete, untergegangen war. Noch einmal hatte Reichskommissar Seyß-Inquart dem Wunsch seiner Frau nachgegeben. Willem Mengelberg, das einstige Idol der Amsterdamer, durch seine Sympathien für Nazi-Deutschland längst in Misskredit geraten, durfte ausnahmsweise Tschaikowskys »Pathétique« dirigieren. Der illegalen Zeitung Trouw war es wieder eine scharfe Publikums-Kritik wert: »Hunderte von Niederländern sind noch immer außer sich vor Begeisterung über die Mengelberg-Konzerte. Sie vergessen, dass Mengelberg ein Landesverräter, ein Freund Seyß-Inquarts ist.«
Müde und mutlos ist die große Mehrheit, doch es gibt andere, wenngleich sie in der Minderheit sind: Nationalsozialisten, die eisern an ihrer Ideologie festhalten und Widerstandskämpfer, die mehr denn je von ihrem Einsatz und einer freiheitlichen Zukunft überzeugt sind. In Amsterdam treffen sie alle aufeinander.
Am 4. März, einem Samstag, startete die Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande in der Hauptstadt eine gewaltige Propaganda-Kampagne unter dem Motto »Der Kampf um Amsterdam«. Die Getreuen waren im Concertgebouw zusammengekommen, wo Anton Mussert, der »Führer«, ihnen Mut machte und zu noch mehr Engagement aufrief: »Jeder auf seinem Posten, gerade jetzt! Treu den Prinzipien und treu der Bewegung, egal, was andere davon halten … ohne die Pioniere, ohne eine Minderheit, die
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