Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Besuchen in der Krippe kennen, gehen sie vertrauensvoll mit.
29. September, kurz vor 8 Uhr morgens – Das Ehepaar Sieny und Harry Cohen verlässt die Kinderkrippe. Schon nach wenigen Minuten werden sie in der menschenleeren Straße von einem Zivilisten angehalten, ein Niederländer, der für den deutschen Sicherheitsdienst ( SD ) arbeitet: »Die Ausweise!« Sieny Cohen trägt ihre Pflegerinnen-Uniform als Signal: Obwohl Jüdin, werde ich noch gebraucht. Ihr Mann weist die Ausweise mit den beiden schwarzen J vor, die gefälschten für ein neues Leben liegen gut versteckt in der Tasche: »Wir machen nur eine kleine Runde, bevor wir an die Arbeit gehen.« Endlose Sekunden, dann gibt der Mann die Ausweise zurück; sie können weitergehen. Ohne ein Wort zu sprechen, laufen Sieny und Harry Cohen den langen Weg nach Amsterdam Zuid, Stadionskade 70. Hier wohnen nichtjüdische Freunde, die Vorbereitungen für ihr Untertauchen getroffen haben. Bevor sie klingeln, reißen die beiden sich den gelben Stern von der Kleidung: Harry und Sieny Cohen existieren nicht mehr; ihr langer Weg als untergetauchte Juden beginnt. Das Ehepaar Cohen wird überleben.
29. September, am Nachmittag – SS -Führer aus der Fünten erscheint in der Crèche: Es ist vorbei, alle Kinder, die in der Krippe sind, werden noch heute abtransportiert. Nur Virrie Cohen bleibt »gesperrt«, um alles abzuwickeln und Kinder, die weiterhin aufgespürt werden, zu versorgen.
In der Schouwburg erfährt Grete Weil, wie alle, die hier für den Jüdischen Rat arbeiten, dass sie an diesem Abend nicht nach Hause darf. Da ihr Mann Edgar im Juli 1941 während der ersten Amsterdamer Straßenrazzia gepackt und im KZ Mauthausen ermordet wurde, hat die deutsch-jüdische Immigrantin bis jetzt eine »Sperre« bekommen. Nun überlegt die gelernte Fotografin fieberhaft, ob sie in dieser Nacht fliehen soll. Grete Weil riskiert es. Zusammen mit zwei weiteren Juden geht sie durch den Bühneneingang des ehemaligen Theaters nach draußen. Hier sind rund um die Uhr SS -Männer postiert, auf deren Wohlwollen die Fliehenden hoffen, denn man kennt sich seit Monaten. Dann die Verblüffung – »niemand steht draußen. Schnell reißen wir uns die Sterne von den Mänteln«. Grete Weil gelingt es, in Amsterdam unterzutauchen. Sie überlebt.
29. September, am Abend – Die Juden, die noch in Amsterdam leben, werden von einer umfassenden Razzia überrascht. Aus Westerbork sind rund 150 Männer vom Jüdischen Ordnungsdienst in die Hauptstadt gebracht worden, um mit Hand anzulegen. Es soll endgültig »aufgeräumt« werden. Dass der Transport am Vorabend von Rosch Haschanah, dem jüdischen Neujahrsfest, stattfindet, gehört zu den perfiden Demütigungen der Besatzer.
Haben die führenden Männer vom Jüdischen Rat darauf vertraut, dass sie für die Deutschen unersetzlich sind? Wenn ja, dann war es eine Illusion, die an diesem Tag zerplatzte. Immerhin, die beiden Vorsitzenden, Professor David Cohen und der Unternehmer Abraham Asscher, ihre engsten Mitarbeiter und Verwandten, auch Willem Elte, Direktor des Jüdischen Lyzeums, mussten am Amsterdamer Hauptbahnhof keine Viehwaggons besteigen, wie die meisten ihrer Glaubensgenossen. Sie fahren dritter Klasse ins Lager Westerbork. Die Deutschen entschieden noch am gleichen Tag, den Jüdischen Rat aufzulösen, der ihnen seit dem Februar 1941 gute Dienste geleistet und viel Arbeit abgenommen hatte.
Insgesamt kamen am 29. und 30. September drei Transporte mit rund 2800 Menschen in Westerbork an. Es waren nicht die letzten Züge, die von Amsterdam Juden ins Lager fuhren. Aber es war die letzte organisierte Razzia in der Hauptstadt. Bis Juli 1944 werden von kleinen Polizeikommandos, von Einzeltätern und Verrätern in Amsterdam noch rund 6600 untergetauchte Juden aufgespürt werden. Das Risiko, verraten, entdeckt und verhaftet zu werden, lag für erwachsene untergetauchte Juden in Amsterdam bei mindestens 33 Prozent. Bei jüdischen Kindern waren es nur 3,5 Prozent, die Hemmschwelle lag offensichtlich wesentlich höher.
Nachdem die Kinderkrippe am 29. September geschlossen worden war, lieferten die Menschenjäger in den nächsten Tagen für Kopfgeld wieder jüdische Kinder in der Schouwburg ab. Virrie Cohen kümmerte sich um sie. Am 8. Oktober musste sie auch diese Kinder für einen Transport vorbereiten. Um 14 Uhr 30 kamen zwei Busse. Vier Stunden lang fuhren sie Kinder und Erwachsene unter Bewachung von der Schouwburg in der Plantage Middenlaan
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