Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
zum Panamakade, wo die Züge nach Westerbork warteten. Anschließend bedrängen Freunde, darunter Walter Süskind, Virrie Cohen, unterzutauchen: Sie müsse überleben, um nach dem Krieg die Kinder in den Pflegefamilien zu identifizieren, denn viele der Eltern würden nicht wiederkehren. Schweren Herzens geht Virrie Cohen wenig später unbemerkt in Richtung Weteringschans davon, eine Untertauchadresse im Kopf. Sie wird überleben.
Auch die Widerstandsarbeit der Kinder-Helfer ist an ihr Ende gekommen. Von 5000 bis 6000 jüdischen Kindern, die von den Deutschen aufgegriffen wurden, haben die vier Gruppen zwischen Juli 1942 und September 1943 gut 900 vor Deportation und Tod retten können, davon rund 600 Kinder durch dramatische Schmuggel-Aktionen aus der Crèche gegenüber der Joodse Schouwburg.
Zum 1. Oktober lösen die Besatzer die Kolonne Henneicke auf. Achtzehn der 54 Männer werden entlassen, die anderen in NS -Organisationen untergebracht, wo sie weiterhin Jagd auf untergetauchte Juden machen können. Willem Henneicke bekommt einen Posten in der Zentralstelle für jüdische Auswanderung. Insgesamt wird bei der ZjA Personal eingespart und sie zieht in ein kleineres Büro. Ihre Arbeit ist getan.
Am 8. Oktober 1943 proklamieren die deutschen Besatzer Amsterdam offiziell als »judenfrei«. Doch es gibt weiterhin jüdisches Leben in der Hauptstadt. Da sind einmal die unsichtbaren Juden, die – auf Dachböden, in Hinterzimmern, leeren Häusern und Verschlägen oder mit gefälschten Ausweisen – ihren Verfolgern trotzen. Die Schätzungen schwanken zwischen 8000 und 18 000 Juden, die nach dem Herbst 1943 in Amsterdam im Untergrund leben. Außerdem gibt es immer noch einzelne Juden, deren Ausweis mit der lebensrettenden »Sperre« verlängert wird, weil sie für die Besetzer von Nutzen sind. Walter Süskind zum Beispiel, der mit seiner Frau Johanna und der fünfjährigen Tochter Yvonne in Amsterdam bleiben darf, weil er sich um die Abwicklung der Joodse Schouwburg kümmern muss. Und dann leben an der Amstel noch rund 300 »portugiesische« Juden mit »Sperre«, aber auf Abruf. Von ihnen wird im nächsten Kapitel die Rede sein.
Die Deutschen hatten ihr Ziel – die Vernichtung der europäischen Juden – in den besetzten Niederlanden anfangs verschleiernd, dann offen und immer zielstrebig und entschlossen verfolgt. Im September 1943 schien die außergewöhnliche Geschichte der niederländischen Juden, mit Wurzeln über viele Generationen bis in die Zeit um 1600, an ihr Ende gekommen.
Jeder Tod ist eine Katastrophe. Die Angst und die Verzweiflung jedes und jeder einzelnen, seine und ihre Schmerzen, die menschenverachtenden Zustände in den Lagern, das Leid und die zerstörten Leben derer, die überlebten – niemand kann es erfühlen und erfassen. Nichts gibt es wiedergutzumachen, nur die Verpflichtung, alles im Gedächtnis zu halten, immer aufs Neue zu erzählen, was geschehen ist.
Wenn die Qualen und Erniedrigungen der ermordeten Juden, der Gefolterten und Gejagten alle Vorstellungen übersteigen; wenn das, was die Betroffenen »die Hölle« nannten, alle Worte fade werden lässt, bleiben die Zahlen. Auch die Quantität des Schrecklichen hat eine Wucht, die die Würde des einzelnen Menschen nicht untergehen lässt sondern wie in versteinerter Trauer für alle Zeiten aufbewahrt.
Zur Erinnerung: 80 000 der 140 000 jüdischen Niederländer lebten im Frühjahr 1940, als die Deutschen das Land überfielen, in Amsterdam. Diese Zahl wuchs bis ins den Sommer 1942 stark an, da die meisten niederländischen Juden nach und nach gezwungen wurden, in die Hauptstadt zu ziehen. Weil in die Zeit vom Oktober 1943 bis zum Kriegsende nur noch ein Bruchteil der Deportationen und Morde fällt, ist jetzt der Augenblick, die Bilanz der Vernichtung aufzustellen.
Von den 140 000 niederländischen Juden haben die deutschen Besatzer seit Mitte Juli 1942, also in gut 14 Monaten, rund 107 000 aufgegriffen und deportiert. Knapp 5000 von ihnen überleben die Mordmaschinerie. Das bedeutet: Rund 102 000 der niederländischen Juden wurden ermordet, vernichtet, ausgelöscht – Ehepaare, Kinder, Säuglinge, Eltern, Geschwister, Großeltern. 54,9 Prozent von ihnen starben in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau, 33,4 Prozent in den Gaskammern von Sobibor. Die übrigen überlebten die Lager Bergen-Belsen und Mauthausen nicht oder starben in den ersten Monaten 1945 als Häftlinge auf den Todesmärschen aus den
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