Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Unter den rund 140 000 niederländischen Juden gibt es 4303 portugiesische Juden, von denen 3798 in Amsterdam leben, wo insgesamt rund 80 000 Juden zuhause sind. Portugiesische Juden nennen sich die Nachkommen jener ersten jüdischen Flüchtlinge, die um 1600 aus Spanien und Portugal in die freie tolerante Republik der Niederlande flüchteten und die ersten jüdischen Gemeinden gründeten.
Um die Mitte des 17. Jahrhunderts strömten auch jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa, Aschkenasen oder hochdeutsche Juden genannt, an die Amstel. Mitten in der Stadt entstanden die prächtige portugiesische Synagoge und ihr gegenüber die stolze Synagoge der Hochdeutschen. Der Zustrom östlicher Juden hielt aufgrund immer neuer Pogrome bis weit ins 19. Jahrhundert an. Bald hatten die hochdeutschen die portugiesischen Juden, auch Sefarden genannt, in Amsterdam zahlenmäßig weit überflügelt.
Portugiesische und hochdeutsche Juden hielten sich streng getrennt voneinander. An den Grachten baute sich die Elite der portugiesischen Juden, reiche und gebildete Bankiers und Kaufleute, prächtige Häuser, die bis heute mit wohlklingenden Namen verbunden sind – de Castro, Belinfante, da Pinto, Texeira. Ohne ihr Judentum zu verleugnen, wurden sie problemlos Teil der bürgerlich-christlichen Amsterdamer Elite. Die kosmopolitischen Sefarden kleideten sich elegant nach neuester Mode und parlierten niederländisch, während die Hochdeutschen weiterhin ihre traditionelle schwarze osteuropäische Tracht trugen und an der jiddischen Sprache festhielten. Bis im 19. Jahrhundert auch viele hochdeutsche Juden aus dem selbst gewählten Getto ausbrachen und sich als Unternehmer, Ärzte und Gelehrte der Moderne und der niederländischen Gesellschaft zuwandten.
Als die Deutschen im Mai 1940 das Land unter ihre Gewalt brachten, und nach kurzem verfänglichem Abwarten Schlag auf Schlag Diskriminierung, Entrechtung und Deportation der Juden folgten, waren die kleinen Leute der portugiesischen Juden und ihre Mittelschicht ebenso betroffen wie die hochdeutschen Juden. Alle mussten dem Aufruf zum »Arbeitseinsatz« folgen, landeten in den Vernichtungslagern. Henriette Pimentel, die kluge Direktorin der Kinderkrippe gegenüber der Schouwburg, war eine portugiesische Jüdin; sie wurde im Oktober 1943 in Auschwitz ermordet. Die Elite der portugiesischen Juden, ein paar wenige Familien, insgesamt rund 400 Menschen, jedoch kämpfte ums Überleben, indem sie sich vom Judentum distanzierte. Diese Amsterdamer Juden lieferten Stammbäume über sieben Generationen christlich-portugiesischer Vorfahren an die Besatzer und gaben wissenschaftliche Untersuchungen in Auftrag. Um nicht die Züge ins Lager Westerbork besteigen zu müssen, versuchten die Betroffenen, der Pseudowissenschaft der Rassenlehre etwas entgegenzusetzen und diese mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.
Es waren eindrucksvolle Unterlagen von nichtjüdischen, auch deutschen Autoritäten, die auf den Tischen der Verfolger zur Begutachtung landeten, mit Statistiken und Fotografien versehen, mit Abmessungen von Schädeln, Nasen und Ohren. Es gelang, Zweifel zu säen. Zwischen 1941 und 1943 gab es kein Einvernehmen zwischen dem Eichmann-Referat in Berlin – »Unzweifelhaft Juden!« – und den deutschen Besatzern vor Ort, die rund 360 portugiesische Juden tatsächlich vorläufig vom Transport »freistellten«. Die letzte Hoffnung der Bedrängten war das Gutachten des nichtjüdischen Amsterdamer Arztes und Anthropologen Arie de Froe im Juli 1943. Er hatte 203 Männer und 172 Frauen der portugiesischen Juden mit der Fragestellung untersucht »Sind sie als Juden anzusehen oder gehören sie zu einer anderen Rasse?« Die Antwort war aus wissenschaftlicher Sicht für Arie de Froe klar. Sie sind »mit Sicherheit keine Juden«, sondern »gehören zur mediterranen Rasse, vor allem zur westlichen Gruppe«. Würde das die deutschen Judenhasser überzeugen?
Es ging um Leben oder Tod. Wer will ein Urteil fällen über jene, die sich mit allen Mitteln ans Ufer des Lebens klammerten. Vom Jahresbeginn 1944 haben sich zwei Telegramme des SS -Hauptsturmführers Ferdinand aus der Fünten erhalten, oberster Chef der Juden-Deportationen in Amsterdam. Das erste enthielt eine Anweisung: Alle restlichen portugiesischen Juden am 1. Januar abends gegen 11 Uhr »schlagartig aufgreifen«, auch die, die eine »Sperre« haben; alle nach Westerbork transportieren. Am 2. Januar folgte die Vollzugsmeldung: Von 180
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