Leben, um davon zu erzählen
war eine so unverhoffte Entwicklung, dass es schwer ist, davon zu erzählen. Zu Beginn des Jahres hatte ich mich, wie mit den Eltern abgemacht, in der juristischen Fakultät der Universidad Nacional de Bogotá immatrikuliert. ich wohnte mitten in der Stadt in der Galle Florian in einer Pension, wo vornehmlich Studenten von der Atlantikküste logierten. An den freien Nachmittagen arbeitete ich nicht für meinen Lebensunterhalt, sondern las in meinem Zimmer oder in den Cafés, die das gestatteten. An die Bücher kam ich durch Glück oder Zufall, und die Auswahl hatte mehr mit Schicksal als mit meinen Vorlieben zu tun, zudem setzten mir die Freunde, die sich die Bücher kaufen konnten, so enge Leihfristen, dass ich für eine rechtzeitige Rückgabe die Nächte durch lesen musste. Anders aber als in Zipaquirá, wo ich Autoren las, die sich bereits einen Platz im Mausoleum der anerkannten Dichter verdient hatten, verschlangen wir hier die Bücher, die nach der langen Dürreperiode der Verlage im Zweiten Weltkrieg gerade erst in Buenos Aires übersetzt und gedruckt worden waren, wie frisches, noch warmes Brot. Auf diese Weise entdeckte ich zu meinem Glück die schon längst entdeckten Autoren Jorge Luis Borges, D. H. Lawrence und Aldous Huxley, Graham Greene und Chesterton, William Irish, Katherine Mansfield und viele mehr.
Solche Neuerscheinungen lagen unerreichbar in den Schaufenstern der Buchläden aus, ein paar Exemplare kursierten aber in den Studentencafés, die für die jungen Leute aus der Provinz geradezu Zentren der Kulturvermittlung waren. Viele Studenten hatten über Jahre hinweg ein Stammcafé, wo sie auch ihre Post und sogar Geldüberweisungen empfingen. Gefälligkeiten der Cafébesitzer oder ihrer vertrauenswürdigen Kellner trugen entscheidend zur Rettung manch einer universitären Laufbahn bei. Wahrscheinlich verdanken viele Akademiker des Landes, besonders solche aus ärmeren Familien, diesen Cafés mehr als den Universitäten, weil die Cafébesitzer, anders als die unsichtbaren Professoren, in Notfällen für sie ansprechbar waren.
Ich bevorzugte das Café El Molino, da dort die älteren Dichter verkehrten und es nur zweihundert Meter von meiner Pension entfernt an der entscheidenden Ecke Avenida Jiménez de Quesada und Carrera Séptima lag. Stammtische für Studenten waren dort nicht erlaubt, dafür konnte man aber sicher sein, aus den literarischen Gesprächen, die man unauffällig von den Nebentischen aus verfolgte, mehr und Besseres als aus den Fachbüchern zu lernen. Es war ein riesiges Haus, im spanischen Stil eingerichtet und von Santiago Martínez Delgado mit Szenen aus Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen ausgemalt. Auch wenn ich keinen reservierten Platz hatte, bekam ich es immer so hin, dass die Kellner mich in die Nähe des großen Meisters León de Greiff ließen, der - bärtig, knurrig, bezaubernd - gegen Abend zu seiner literarischen Runde mit den damals berühmten Schriftstellern eintraf und gegen Mitternacht dann mit seinen Schachschülern in billigem Fusel versackte. Kaum einer der Großen in Kunst und Literatur hat nicht irgendwann einmal an diesem Tisch gesessen, und wir an dem unseren stellten uns tot, um ja kein Wort zu verpassen. Auch wenn sie mehr über Frauen und politische Intrigen sprachen als über die Kunst und ihr Handwerk, kam doch immer etwas Neues und Lehrreiches dabei heraus. Am regelmäßigsten kamen wir Kariben, die wir uns weniger durch die Verschwörungen gegen die Cachacos als durch das Laster der Literatur verbunden fühlten. Jorge Álvaro Espinosa, ein Jurastudent, der mich gelehrt hatte, die Bibel zu durchschiffen, und der mich alle Namen der Begleiter Hiobs auswendig lernen ließ, legte mir eines Tages einen erschreckenden Wälzer auf den Tisch und erklärte mit seiner bischöflichen Autorität:
»Das ist die andere Bibel.«
Es war, wie konnte es anders sein, der Ulysses von James Joyce, den ich stückweise und stolpernd las, bis meine Geduld am Ende war. Es war verfrühter Wagemut. Jahre später, als ich schon erwachsen und demütig war, stellte ich mich der Aufgabe, den Ulysses ernsthaft wieder zu lesen, und es war für mich die Entdeckung einer eigenen Welt, die ich nie in mir vermutet hatte, und darüber hinaus eine unschätzbare technische Hilfe, was die Freiheit der Sprache, die Behandlung der Zeit und die Struktur meiner Bücher anbelangte.
Einer meiner Zimmergenossen war Domingo Manuel Vega, ein Medizinstudent, der schon in Sucre mein Freund
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