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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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umzuarbeiten. Zu allem Überfluss konnte sich die ursprüngliche Sitte, die Kleidung unter den Internatsschülern auszutauschen, nicht durchsetzen, weil die Garderobe so sehr mit jedem Einzelnen identifiziert wurde, dass der Spott für die neuen Besitzer unerträglich war. Das hatte sich zum Teil erledigt, als Espitia eine Uniform mit blauer Jacke und grauen Hosen vorschrieb, was das Erscheinungsbild vereinheitlichte und die Tauschgeschäfte vertuschte.
    Im dritten und vierten Oberschuljahr trug ich den einzigen Anzug, den mir der Schneider in Sucre umgeändert hatte, aber für das fünfte Jahr musste ich dann einen anderen kaufen, der sehr gut erhalten war, aber nicht fürs sechste Jahr reichte. Doch mein Vater war von meinen Besserungsvorsätzen so begeistert, dass er mir das Geld für einen neuen Uniformanzug nach Maß gab, und José Palencia schenkte nur einen Anzug von ihm aus dem Vorjahr, einen kaum gebrauchten Kamelhaar-Dreiteiler. Bald merkte ich, wie wenig Kleider Leute machen. In dem neuen Anzug, den ich abwechselnd mit der neuen Uniform tragen konnte, ging ich zu den Bällen, auf denen die Kariben den Ton angaben, und bekam nur eine Braut ab, die mir kaum so lang wie eine Blume erhalten blieb.
    Espitia empfing mich mit einem seltenen Enthusiasmus. Die zwei Chemiestunden in der Woche schien er nur für mich zu halten, mit einem Schnellfeuer von Fragen und Antworten.
    Diese erzwungene Aufmerksamkeit offenbarte sich mir als guter Ansatz, um den würdigen Abschluss, den ich meinen Eltern versprochen hatte, zu erreichen. Das Übrige erledigte die einzige und einfache Methode von Martina Fonseca: Im Unterricht aufzupassen, um Nachtarbeit und ein Ende mit Schrecken zu vermeiden. Es war eine weise Lehre. Seitdem ich mich dazu entschlossen hatte, diese Methode im letzten Oberschuljahr anzuwenden, legte sich meine Unruhe. Es war mir ein Leichtes, auf die Fragen der Lehrer zu antworten, die mir allmählich vertrauter wurden, und ich merkte, wie leicht es war, das meinen Eltern gegebene Versprechen zu halten.
    Das einzige Problem, das mich beunruhigte, waren immer noch meine Schreie bei den Albträumen. Ricardo González Ripoll zu meiner Linken und Rafael Rivas rechts von mir lösten es durch einen Schlag mit dem Kopfkissen beim ersten Klagelaut. Für die Disziplin an der Schule zuständig war damals der Lehrer Gonzalo Ocampo, der auf sehr gutem Fuße mit den Schülern stand. Im zweiten Semester schlich er sich eines Nachts auf Zehenspitzen in den dunklen Schlafsaal und wollte seine Schlüssel von mir haben, die ich vergessen hatte, ihm zurückzugeben. Er hatte mir kaum an die Schulter getippt, als ich ein wildes Heulen ausstieß, das den ganzen Saal weckte und in Schrecken versetzte. Am nächsten Tag ließen sie mich in einen Schlafraum für sechs Schüler umziehen, der im zweiten Stock provisorisch eingerichtet war.
    Das war eine Lösung für meine nächtlichen Ängste, aber auch sehr verführerisch, weil der Raum über der Speisekammer lag und vier von uns sich in die Küche schlichen und sie nach Lust für ein Mitternachtssouper plünderten. Sergio Castro, der unverdächtig war, und ich, der am wenigsten Mut hatte, blieben in unseren Betten, um bei auftretenden Schwierigkeiten als Vermittler aufzutreten. Nach einer Stunde kamen die anderen mit der halben Speisekammer, servierfertig zusammengestellt, zurück. Das war das große Fressen unserer langen hternats jähre, es erwies sich jedoch als unverdaulich, da sie uns binnen vierundzwanzig Stunden auf die Schliche kamen. Ich dachte, nun sei alles zu Ende, und tatsächlich konnte uns nur das Verhandlungsgeschick von Espitia vor dem Rauswurf retten.
    Es war eine gute Zeit für das Liceo und keine viel versprechende für das Land. Die unparteiische Art von Lleras steigerte ungewollt die Spannungen, die zum ersten Mal auch im Liceo zu spüren waren. Heute ist mir allerdings klar, dass ich diese Spannungen schon früh verinnerlicht hatte, aber erst damals ein Bewusstsein von dem Land bekam, in dem ich lebte. Einige Lehrer, die seit dem letzten Jahr versucht hatten, sich in der Öffentlichkeit unparteiisch zu geben, schafften das nicht im Unterricht und ließen unbekömmliche Suaden über ihre politischen Vorlieben los. Insbesondere nachdem der harte Wahlkampf um die Präsidentschaftsnachfolge begonnen hatte.
    Mit jedem Tag wurde klarer, dass der Liberalismus mit Gaitan und Turbay die Macht nach sechzehn Regierungsjahren verlieren würde. Die beiden liberalen Kandidaten

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