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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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und die Kalkfladen, die sie mit den Nägeln von der Wand kratzte. Als die Großmutter das entdeckte, schüttete sie Galle auf die leckersten Winkel im Garten und vergrub scharfe Pfefferschoten in den Blumentöpfen. Pater Angarita taufte Margot bei derselben Zeremonie, mit der er die Nottaufe, die ich bei der Geburt erhalten hatte, ratifizierte. Auf einem Stuhl stehend empfing ich die Taufe und ertrug mit Zivilcourage das Kochsalz, das der Pater mir auf die Zunge legte, und den Krug Wasser, den er mir über den Kopf schüttete. Margot dagegen rebellierte für uns beide, kreischte wie ein wildes Tier und wehrte sich mit allen Leibeskräften, so dass Paten und Patinnen, die sie über den Taufstein hielten, sie kaum bändigen konnten.
    Heute denke ich, dass Margot in ihrer Beziehung zu mir vernünftiger war als die Erwachsenen unter sich. Wir hatten eine so eigenartige Komplizenschaft, dass wir bei mehr als einer Gelegenheit die Gedanken des anderen errieten. Eines Morgens spielten wir zusammen im Garten, als, wie jeden Tag um elf, der Zug pfiff. Dieses Mal aber hatte ich die unerklärliche Eingebung, dass in diesem Zug der Arzt der Bananengesellschaft komme; er hatte mir vor Monaten einen Rhabarbertrunk gegeben, der einen Brechanfall bei mir ausgelöst hatte. Ich rannte schreiend durchs ganze Haus, aber keiner wollte meiner Warnung glauben. Außer meiner Schwester Margot, die sich mit mir versteckte, bis der Arzt gespeist und den Zug zur Rückfahrt bestiegen hatte. »Heilige Maria Mutter Gottes!«, rief meine Großmutter aus. »Diese Kinder machen jedes Telegramm überflüssig.«
    Nie konnte ich die Angst davor überwinden, allein zu sein, erst recht nicht im Dunkeln, aber ich glaube, das hatte einen konkreten Grund, denn nachts nahmen die Phantasien und Vorahnungen meiner Großmutter Gestalt an. Noch siebzigjährig habe ich in Träumen die Glut des Jasmins auf der Veranda und das Gespenst der düsteren Schlafzimmer erahnt, immer begleitet von dem Gefühl, das mir die Kindheit verdorben hat: dem Grauen vor der Nacht. Oft habe ich mich in meinen schlaflosen Stunden rund um die Welt gefragt, ob nicht auch auf mir der Fluch jenes mythischen Hauses aus einer glücklichen Welt lastet, in der wir jede Nacht starben.
    Besonders seltsam ist, dass gerade die Großmutter mit ihrem Sinn für das Irreale das Haus über Wasser hielt. Wie war es nur möglich, diesen Lebensstil mit so wenigen Mitteln aufrechtzuerhalten? Die Rechnung geht nicht auf. Der Oberst hatte das Handwerk seines Vaters gelernt, der es seinerseits von seinem Vater erlernt hatte, doch obwohl die goldenen Fischlein so berühmt und überall zu sehen waren, machte er damit kein gutes Geschäft. Mehr noch: Als Kind hatte ich den Eindruck, dass er sie nur gelegentlich oder wenn es um ein Hochzeitsgeschenk ging, herstellte. Die Großmutter sagte, er arbeite bloß, um schenken zu können. Doch sein Ruf als guter Funktionär festigte sich, als die Liberale Partei an die Macht kam und er über Jahre Schatzmeister und mehrmals Finanzverwalter war.
    Ich kann mir kein günstigeres familiäres Klima für meine Begabung vorstellen als dieses verrückte Haus, vor allem wegen des Charakters der zahlreichen Frauen, die mich großgezogen haben. Mein Großvater und ich waren die einzigen Männer, und er führte mich mit Berichten über blutige Schlachten in die traurige Realität der Erwachsenen ein, vermittelte mir sein Schulwissen über den Flug der Vögel und das Donnern am Abend und ermunterte mich in meiner Freude am Zeichnen. Am Anfang malte ich auf die Wände, bis die Frauen des Hauses sich lautstark über den Schmierfinken erregten: Narrenhände beschmieren Tisch und Wände. Mein Großvater wurde wütend, ließ eine Wand seiner Werkstatt weiß anstreichen und kaufte mir Buntstifte, später auch einen Kasten Aquarellfarben, damit ich nach Lust und Laune malen konnte, während er seine berühmten goldenen Fischlein fabrizierte. Ich hörte ihn einmal sagen, sein Enkel werde Maler, was mich nicht weiter beeindruckte, weil ich dachte, Maler streichen nur Türen an.
    Wer mich als Vierjährigen gekannt hat, sagt, ich sei blass und nachdenklich gewesen und habe den Mund nur aufgemacht, um Unsinn zu erzählen. Aber ich erzählte meistens einfache Episoden aus dem Alltag, die ich mit phantastischen Details ausschmückte, damit die Erwachsenen mir zuhörten. Die beste Quelle der Inspiration waren die Gespräche, die sie in meiner Gegenwart führten, weil sie dachten, ich verstünde sie

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