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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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nicht großbekommen.«
    Lange Zeit lebte ich voller Schrecken in Erwartung eines plötzlichen Todes und träumte häufig, im Spiegel statt meiner ein frisch geborenes Kalb zu sehen. Der Schularzt diagnostizierte Malaria, Mandelvereiterung und schwarze Galle als Folge von zu viel unverdaulicher Lektüre. Ich gab mir keine Mühe, die Sorgen der anderen zu lindern. Im Gegenteil, ich übertrieb meinen kränklichen Zustand, um mich vor Pflichten zu drücken. Mein Vater aber setzte sich tollkühn über die wissenschaftlichen Prognosen hinweg und erklärte mich vor seiner Abfahrt zum Verantwortlichen für Haus und Familie in seiner Abwesenheit.
    »Als wärst du ich.«
    Am Tag der Abreise rief er uns im Salon zusammen, gab uns Anweisungen und teilte vorbeugend Tadel aus für das, was wir in seiner Abwesenheit falsch machen könnten, doch wir merkten, das waren nur seine Finten, um nicht weinen zu müssen. Er gab jedem von uns fünf Centavos, damals ein kleines Vermögen für ein Kind, und versprach uns, den einen Fünfer in zwei umzutauschen, falls wir ihn bei seiner Rückkehr noch nicht angebrochen hätten. Am Ende wandte er sich mit dem Ton eines Evangelisten an mich:
    »Ich lasse sie in deinen Händen, möge ich sie in deinen Händen wiederfinden.«
    Es brach mir das Herz, ihn mit den Reitgamaschen und dem Rucksack über der Schulter das Haus verlassen zu sehen, und ich war der Erste, der sich den Tränen ergab, als Papa uns, bevor er um die Ecke bog, mit einem letzten Blick bedachte und zum Abschied winkte. Erst da wurde mir bewusst, und das ein für alle Mal, wie sehr ich ihn liebte.
    Es war nicht schwierig, seinen Auftrag zu erfüllen. Meine Mutter hatte sich an solch plötzliches Alleinsein voller Ungewissheiten langsam gewöhnt und ging damit widerwillig, jedoch mit leichter Hand um. Küche und Haushalt machten es erforderlich, dass auch die Kleinen halfen, und sie machten das gut. Und ich fühlte mich damals zum ersten Mal als Erwachsener, da ich bemerkte, dass meine Geschwister mich wie einen Onkel zu behandeln begannen.
    Es ist mir nie gelungen, meine Schüchternheit in den Griff zu bekommen. Als ich mich leibhaftig dem Auftrag stellen musste, den mir der herumwandernde Vater hinterlassen hatte, lernte ich, dass die Schüchternheit ein unbesiegbares Gespenst ist. Jedes Mal, wenn ich um Kredit bitten musste, selbst wenn der schon im Voraus in den Läden von Freunden vereinbart worden war, schlich ich stundenlang ums Haus, unterdrückte das Bedürfnis zu weinen und das Rumoren im Bauch, und wenn ich mich dann endlich vorwagte, hatte ich die Kiefer so zusammengepresst, dass ich kaum einen Ton herausbekam. Es gab bei solchen Gelegenheiten durchaus auch herzlose Krämer, die mich endgültig verstören: »Mit geschlossenem Mund kann man nicht sprechen, Kindskopf.« Mehr als einmal kehrte ich mit leeren Händen und einer erfundenen Ausrede zurück. Doch so schrecklich unbeholfen wie das erste Mal, als ich im Laden an der Ecke telefonieren sollte, war ich nur einmal. Der Besitzer hatte mir mit dem Fräulein vom Amt geholfen, weil man damals noch nicht durchwählen konnte. Als er mir den Hörer gab, spürte ich den Hauch des Todes. Statt der zuvorkommenden Stimme, die ich erwartete, hörte ich eine Art Gebell, jemand schien zur gleichen Zeit wie ich in der Dunkelheit zu reden. Ich dachte, mein Gesprächspartner könne mich ebenfalls nicht verstehen, und sprach, so laut ich nur konnte. Der andere wurde wütend und seinerseits lauter:
    »Was zum Teufel schreist du mich so an!«
    Ich legte entsetzt auf. Ich muss zugeben, dass ich trotz meines Drangs, mich auszutauschen, immer noch meine Angst vor dem Telefonieren und dem Fliegen überwinden muss, und vielleicht stammt das ja aus jener Zeit. Wie sollte ich es je zu etwas bringen? Zum Glück hatte meine Mutter darauf eine Antwort, die sie häufig wiederholte: »Ohne Schweiß kein Preis.«
    Die erste Nachricht von Papa erreichte uns nach zwei Wochen, ein Brief, der uns eher unterhalten denn informieren sollte. So fasste es meine Mutter auf und sang an jenem Tag beim Geschirrspülen, um unsere Moral zu heben. Ohne meinen Vater war sie anders: Sie schloss sich den Mädchen wie eine ältere Schwester an und fügte sich so gut ein, dass sie bei den Kinderspielen, selbst mit Puppen, die Eifrigste war, und sie konnte dabei die Beherrschung verlieren und sich mit ihnen wie von gleich zu gleich zanken. Es kamen zwei weitere, ähnliche Briefe von Papa, jedoch mit so vielversprechenden

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