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Leben, um davon zu erzählen

Leben, um davon zu erzählen

Titel: Leben, um davon zu erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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Plänen, dass wir danach besser schliefen.
    Ein ernstes Problem war, wie schnell wir aus unseren Kleidern wuchsen. Von Luis Enrique konnte keiner etwas erben, das war schon deshalb nicht möglich, weil er immer verdreckt und mit zerrissener Kleidung von der Straße kam, was wir nie begriffen. Meine Mutter meinte, es sei, als ob er durch Stacheldraht liefe. Die Schwestern - zwischen sieben und neun Jahren alt - halfen sich mit wundersamem Einfallsreichtum untereinander aus, und ich habe stets geglaubt, dass sie durch die Schwierigkeiten damals vor der Zeit erwachsen wurden. Aida war findig, und Margot hatte ihre Schüchternheit weitgehend überwunden und zeigte sich zärtlich und hilfreich mit der Nachgeborenen. Der Schwierigste war ich, nicht nur weil ich für besondere Erledigungen zuständig war, sondern weil meine Mutter, getragen von der Begeisterung aller, gewagt hatte, das Haushaltsgeld anzugreifen, um mich an der Schule Cartagena de Indias anzumelden, die zehn Straßen zu Fuß von unserem Haus entfernt lag.
    Der Ausschreibung entsprechend erschienen um acht Uhr morgens etwa zwanzig Bewerber zur Aufnahmeprüfung. Zum Glück handelte es sich nicht um ein schriftliches Examen, sondern drei Lehrer riefen uns in der Reihenfolge der Anmeldungen der vergangenen Woche auf und prüften uns summarisch aufgrund der vorgelegten Schulbescheinigungen. Ich hatte als Einziger keine, weil die Zeit zu knapp gewesen war, sie von der Montessori-Schule und der Grundschule in Aracataca anzufordern, und meine Mutter meinte, ohne Papiere würde ich nicht angenommen. Aber ich beschloss, mich dumm zu stellen. Einer der Lehrer holte mich aus der Reihe, als ich gestand, dass ich keine Zeugnisse hätte, aber ein anderer nahm dann mein Schicksal in die Hand und ging mit mir ins Büro, wo er mich ohne weitere Voraussetzungen prüfte. Er fragte mich, wie viel ein Gros sei, wie viele Jahre ein Lustrum und ein Millennium hätten, ich musste die Bezirksstädte aufsagen, die wichtigsten Flüsse Kolumbiens und die angrenzenden Länder aufzählen. Das alles schien Routine, bis er mich fragte, welche Bücher ich gelesen hätte. Es erschien ihm bemerkenswert, dass ich so viele und so unterschiedliche nannte und Tausend und eine Nacht in einer Ausgabe für Erwachsene gelesen hatte, in der die schlüpfrigen Episoden, die Pater Angarita empört hatten, nicht ausgemerzt waren. Ich war überrascht zu erfahren, es sei ein wichtiges Buch, denn ich hatte immer gemeint, ernsthafte Erwachsene könnten nicht glauben, dass Geister aus Flaschen fuhren oder Türen sich mittels eines Zauberspruchs öffnen ließen. Die Bewerber vor mir - die angenommenen wie die abgewiesenen -waren alle nicht länger als eine Viertelstunde in dem Zimmer geblieben, und ich unterhielt mich mit dem Lehrer nun schon eine gute halbe Stunde über alle möglichen Themen. Gemeinsam durchsuchten wir ein mit Büchern voll gestopftes Regal hinter seinem Schreibtisch, in dem durch Umfang und Glanz Der Schatz der Jugend hervorstach, von dem ich schon gehört hatte, der Lehrer überzeugte mich jedoch davon, dass für mein Alter der Quijote nützlicher sei. Er fand ihn nicht in der Bibliothek, versprach aber, ihn mir später einmal zu leihen. Nach einer halben Stunde des raschen Austauschs über Sindbad, der Seefahrer und Robinson Crusoe begleitete er mich zum Ausgang, ohne mir zu sagen, ob ich angenommen sei. Ich dachte natürlich, nicht, doch auf der Terrasse verabschiedete er mich mit einem festen Händedruck bis zum Montagmorgen um acht Uhr, dann sollte ich in die zweite Stufe der Primarschule aufgenommen werden: ms vierte Schuljahr.
    Er war der Direktor der Schule, hieß Juan Ventura Casalins, und ich erinnere mich an ihn wie an einen Kindheitsfreund, da er nichts von dem Angst einflößenden Bild der Lehrer jener Zeit hatte. Seine unvergessliche Tugend war, uns alle wie ebenbürtige Erwachsene zu behandeln, auch wenn ich immer noch glaube, dass er sich mir mit besonderer Aufmerksamkeit widmete. Im Unterricht pflegte er mir mehr Fragen als den anderen zu stellen und gab mir Hilfestellung für zutreffende und geläufige Antworten. Er erlaubte mir, Bücher aus der Schulbibliothek mit nach Hause zu nehmen. Zwei davon waren in diesen steinigen Jahren meine Glücksdroge: Die Schatzinsel und Der Graf von Monte Christo. Ich verschlang sie Buchstabe für Buchstabe, um zu erfahren, was auf der nächsten Zeile geschah, und wollte es zugleich nicht erfahren, um den Zauber nicht zu brechen. Bei diesen

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