Leben, um davon zu erzählen
die Leser aber glaubten den offiziellen Verlautbarungen am Ende weniger als den Enthüllungen in La Prensa. Die Konfrontation hielt die Leser mehrere Tage lang seelisch in Anspannung, und die Ermittler wurden mindestens einmal zu einer Kursänderung gezwungen. Das Bild der Frau X war schon so fest in der allgemeinen Phantasie verankert, dass in vielen Häusern die Türen mit Ketten gesichert waren und nachts Wache gehalten wurde, für den Fall dass der frei herumlaufende Mörder sein Programm grauenhafter Verbrechen fortführen wollte, und es wurde angeordnet, dass junge Mädchen nach sechs Uhr abends nicht allein aus dem Haus gehen durften.
Die Wahrheit jedoch wurde von niemandem aufgedeckt, sondern nach einiger Zeit von dem Urheber des Verbrechens, Efrain Duncan, offenbart, als er gestand, seine Frau Angela Hoyos an dem von der Gerichtsmedizin geschätzten Datum getötet und an dem Fundort der Leiche verscharrt zu haben. Ihre Verwandten erkannten die blauen Bänder und den Schmuckkamm, die Angela getragen hatte, als sie am 5. April mit ihrem Mann das Haus verlassen hatte, angeblich für eine Reise nach Calamar. Der Fall konnte zweifelsfrei abgeschlossen werden dank eines fast schon unglaubwürdigen Zufalls, der wie von einem Autor phantastischer Geschichten aus dem Ärmel geschüttelt schien: Angela Hoyos hatte eine Zwillingsschwester, genau ihr Ebenbild, über die sie eindeutig identifiziert werden konnte.
Der Mythos der Frau X büßte seine Kraft ein, weil dahinter bloß ein gewöhnlicher Eifersuchtsmord stand, doch das Geheimnis um die identische Schwester trieb in den Häusern weiter sein Unwesen, da man sich dachte, es könne sich dabei um die durch Hexenkünste wieder ins Leben gerufene Frau X handeln. So wurden die Türen verriegelt und mit Möbeln verbarrikadiert, damit der womöglich durch Magie dem Gefängnis entkommene Mörder nachts nicht hereinkäme. In den Vierteln der Reichen wurde es Mode, Jagdhunde zu halten, darauf abgerichtet, Mörder zu fassen, die durch Wände zu dringen vermochten. Meine Mutter überwand ihre Angst eigentlich erst, nachdem die Nachbarn sie davon überzeugt hatten, dass unser Haus im Barrio Abajo zu Zeiten der Frau X noch nicht erbaut gewesen war.
Am 10. Juli 1939 gebar meine Mutter ein kleines Mädchen mit einem schönen Indioprofil. Das Kind wurde auf den Namen Rita getauft, da meine Mutter Santa Rita de Casia unendlich verehrte. Diese Verehrung galt unter anderem der Geduld, mit der die Heilige den unangenehmen Charakter ihres heruntergekommenen Mannes ertragen hatte. Meine Mutter erzählte uns, dieser sei eines Nachts reizbar und betrunken heimgekommen, gerade als ein Huhn auf den Esstisch gekackt hatte. Da die Ehefrau keine Zeit mehr gehabt habe, das sonst makellose Tischtuch auszuwechseln, habe sie den Haufen schnell mit einem Teller abgedeckt, damit ihr Mann ihn nicht sähe, und diesen mit der üblichen Frage abgelenkt:
»Was möchtest du essen?«
Der Mann knurrte nur:
»Scheiße.«
Woraufhin seine Frau den Teller hob und mit ihrer heiligen Sanftmut sprach:
»Hier hast du sie.«
In der Geschichte heißt es, dass sogar der Mann daraufhin von der Heiligkeit seiner Frau überzeugt gewesen sei und sich zum christlichen Glauben bekehrt habe.
Die neue Apotheke in Barranquilla war ein spektakulärer Reinfall, der nur dadurch etwas abgemildert wurde, dass mein Vater dies schnell und schon im Voraus erkannte. Nachdem er mehrere Monate lang auf niedrigstem Niveau die Stellung gehalten hatte, ein Loch stopfte, indem er zwei andere riss, offenbarte er dann einen Abenteurergeist, den man ihm bisher nicht zugetraut hatte. Er packte eines Tages seine Sachen und machte sich auf, die Schätze zu heben, die in den unwahrscheinlichsten Dörfern am Rio Magdalena verborgen lagen. Bevor er verschwand, nahm er mich zu seinen Geschäftspartnern und Freunden mit und ließ diese mit einer gewissen Feierlichkeit wissen, ich werde ihn vertreten, solange er nicht da sei. Ich habe nie erfahren, ob er gescherzt hatte, wie er es auch bei ernsten Gelegenheiten gern tat, oder ob er es im Ernst gesagt hatte, was ihm auch bei banalen Anlässen Spaß machte. Ich nehme an, jeder verstand es so, wie er wollte, denn mit zwölf war ich rachitisch und blass und gerade einmal gut im Singen und Malen. Die Frau, bei der wir die Milch anschreiben ließen, sagte vor mir und allen anderen zu meiner Mutter, und zwar keineswegs böswillig:
»Verzeihen Sie, Señora, aber ich glaube, diesen Jungen werden Sie
Weitere Kostenlose Bücher