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Lebens-Mittel

Lebens-Mittel

Titel: Lebens-Mittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Pollan
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Mal in unser Bewusstsein. Damals begann eine unerschrockene Handvoll europäischer und amerikanischer Mediziner, die mit den verschiedensten eingeborenen Populationen überall auf der Welt arbeiteten, das fast vollständige Fehlen jener chronischen Krankheiten zu bemerken, die seit kurzem im Westen alltäglich geworden waren. Albert Schweitzer und Denis P. Burkitt in Afrika, Robert McCarrison in Indien, Samuel Hutton bei den Inuits in Labrador, der Anthropologe Aleš Hrdlička bei amerikanischen Indianern und der Zahnarzt Weston A. Price bei einem Dutzend verschiedener Gruppen auf der ganzen Welt (darunter peruanische Indianer, australische Aborigines und Schweizer Bergbewohner) schickten so ziemlich die gleichen Botschaften nach Hause. Sie stellten – oft in medizinischen Fachblättern veröffentlichte – Listen mit den gängigen Krankheiten zusammen, die sie in den von ihnen behandelten oder studierten indigenen Populationen nur unter großen Schwierigkeiten vorfanden: kaum oder kein Vorkommen von Herzkrankheiten, Diabetes, Krebs, Fettleibigkeit, Bluthochdruck oder Schlaganfall; keine Blinddarm- oder Dickdarmentzündungen, keine deformierten Kieferbögen, keine Karies; keine Krampfadern, Geschwüre oder Hämorrhoiden. Diese Störungen erschienen den Forschern plötzlich in einem völlig neuen Licht, was der Name andeutet, der ihnen von dem britischen Arzt Denis Burkitt gegeben wurde, der im 2. Weltkrieg in Afrika arbeitete: Er schlug vor, sie Zivilisationskrankheiten zu nennen. Das implizierte, dass diese sehr unterschiedlichen Krankheitsbilder irgendeine Verbindung miteinander hatten, möglicherweise sogar einen gemeinsamen Ursprung.
    Mehrere dieser Forscher waren als Augenzeugen vor Ort, als die Zivilisationskrankheiten erstmalig bei abgeschieden lebenden Populationen auftraten, gewöhnlich bei »Eingeborenen, die mehr und mehr nach Art der Weißen leben«, wie Albert Schweitzer schrieb. Einigen fiel auf, dass die Zivilisationskrankheiten unmittelbar auf die Ankunft westlicher Lebensmittel folgten, insbesondere Auszugsmehl und Raffinadezucker und anderen Arten »kommerzieller Nahrungsmittel«. Sie beobachteten außerdem, dass, wenn eine Zivilisationskrankheit erst einmal auftauchte, die meisten anderen ebenfalls auftraten, oft in der gleichen Reihenfolge: Auf Fettleibigkeit folgte Typ-2-Diabetes, darauf Bluthochdruck und Schlaganfall, darauf Herzkrankheit.
    In den Jahren vor dem 2. Weltkrieg wurde in der Medizinerwelt über das Thema Zivilisationskrankheiten lebhaft diskutiert; man fragte sich zum Beispiel, was ihr Erscheinen uns über unsere zunehmend industrialisierte Lebensweise zu sagen hätte. Die Pioniere dieses Gedankengangs glaubten, die moderne Kost würde neuartige Dinge enthalten, an die indigene Populationen schlecht angepasst waren; allerdings waren sie sich nicht einig, welche Neuerung genau denn nun der Sündenbock sein könnte. Burkitt nahm an, es seien die fehlenden Ballaststoffe in der modernen Ernährung, während McCarrison, ein britischer Armeearzt, die raffinierten Kohlenhydrate verdächtigte; wieder andere gaben dem Verzehr von Fleisch oder gesättigtem Fett die Schuld oder, wie Price, dem Aufkommen weiterverarbeiteter Nahrungsmittel und industriell angebauter Getreide, denen Vitamine und Mineralstoffe fehlten.
    Allerdings glaubte nicht jeder an die These, chronische Krankheiten seien ein Nebenprodukt des westlichen Lebensstils, und die Industrialisierung unserer Nahrung ginge zu Lasten unserer Gesundheit. Ein Einwand gegen diese Theorie war genetischer Art: Die verschiedenen Rassen seien für ganz spezifische Krankheiten anfällig, lautete das Argument; Weiße würden zu Herzinfarkten neigen, Braune zum Beispiel zu Lepra. Aber wie Burkitt und andere zeigten, litten in Amerika lebende Schwarze unter den gleichen chronischen Krankheiten wie die dort wohnenden Weißen. Durch den bloßen Umzug an Orte wie Amerika schienen Einwanderer aus Ländern mit einem niedrigen Prozentsatz chronischer Krankheiten sich diese ruckzuck zuzuziehen.
    Der andere Einwand gegen das Konzept der Zivilisationskrankheiten, den Sie manchmal immer noch hören, ist demografischer Art. Chronische Krankheiten treten relativ spät im Leben auf, und da die Infektionskrankheiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts besiegt wurden, sind chronische Krankheiten im Westen deshalb so verbreitet, weil wir einfach lange genug leben, um sie zu bekommen. Aus dieser Warte sind chronische Krankheiten der unvermeidliche Preis für ein

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