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Lebens-Mittel

Lebens-Mittel

Titel: Lebens-Mittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Pollan
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Körperzellen waren für Insulin nicht mehr empfänglich) und hatten einen hohen Triglyceridspiegel im Blut – ein Risikofaktor für Herzkrankheiten. Der Komplex an gesundheitlichen Problemen, den diese Aborigines entwickelt hatten, wird medizinisch als »metabolisches Syndrom« oder »X-Syndrom« bezeichnet: Große Mengen raffinierter Kohlenhydrate in der Nahrung in Kombination mit einer sesshaften Lebensweise hatten das komplizierte (und immer noch nicht ganz verstandene) System durcheinandergebracht, durch welches das Insulinhormon den Kohlenhydrat- und den Fettstoffwechsel im Körper steuert. Das metabolische Syndrom ist nicht nur mit der Entstehung von Typ-2-Diabetes in Zusammenhang gebracht worden, sondern auch mit Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Herzkrankheiten und möglicherweise gewissen Krebsarten. Manche Forscher glauben, das metabolische Syndrom wäre der Ausgangspunkt für viele der »Zivilisationskrankheiten«, die im Allgemeinen die Folge sind, wenn eine eingeborene Bevölkerung den westlichen Lebensstil übernimmt und dann im Normalfall auch ihre Ernährung verändert.
    Die zehn Aborigines kehrten also in ihre traditionelle Heimat zurück, eine abgeschiedene Gegend in Nordwestaustralien, die mehr als eine Geländewagen-Tagesreise von der nächsten Stadt entfernt lag. Sobald die Männer und Frauen der Gruppe die Zivilisation verlassen hatten, hatten sie zu kommer ziellen Lebensmitteln oder Getränken keinen Zugang mehr; vielmehr sollten sie ausschließlich auf Nahrung zurückgreifen, die sie selbst gejagt und gesammelt hatten. (Auch als Stadtbewohner hatten sie gelegentlich traditionelle Nahrung aufgespürt und wussten deshalb noch, wie das geht.) Kerin O’Dea, die Ernährungsforscherin, die das Experiment konzipiert hatte, begleitete die Gruppe, um die Nahrungsaufnahme zu überwachen und zu protokollieren und den Gesundheitszustand der Mitglieder im Auge zu behalten.
    Die Aborigines teilten ihren siebenwöchigen Aufenthalt im Busch zwischen einem Ort an der Küste und einem im Landesinneren auf. An der Küste bestand ihre Ernährung überwiegend aus Nahrung aus dem Meer, ergänzt durch Vögel, Kängurus und Witchetty-Maden, den fettreichen Larven eines lokalen Insekts. In der Hoffnung auf mehr pflanzliche Nahrung bewegte die Gruppe sich nach zwei Wochen ins Landesinnere und ließ sich an einem Flussufer nieder. Hier erweiterte sich das Nahrungsspektrum; es umfasste nun außer Frischwasserfisch und Schalentieren Schildkröten, Krokodile, Vögel, Kängurus, Yamswurzeln, Feigen und Buschhonig. Diese Verpflegung einer Jäger- und Sammlergemeinschaft stand in eklatantem Gegensatz zu ihrer vorherigen Ernährung: Über den Zustand vor dem Experiment berichtet O’Dea: »Im urbanen Umfeld waren die wichtigsten Bestandteile der Ernährung Mehl, Zucker, Reis, kohlensäurehaltige Getränke, alkoholische Getränke (Bier und Portwein), Milchpulver, billiges fettes Fleisch, Kartoffeln, Zwiebeln und variable Beiträge sonstiger frischer Früchte und Gemüse gewesen« – die lokale Version der westlichen Ernährung.
    Nach sieben Wochen im Busch nahm O’Dea den Aborigines Blut ab und fand bei praktisch allen gesundheitlich relevanten Faktoren auffallende Verbesserungen. Alle zehn hatten abgenommen (im Durchschnitt 17,9 Pfund) und einen niedrigeren Blutdruck. Ihr Triglyceridspiegel war auf den Normbereich zurückgegangen. Der Omega-3-Fettsäuren-Anteil in ihren Geweben hatte sich drastisch erhöht. »Zusammenfassend kann man sagen«, schloss O’Dea, »dass sich bei einer Gruppe diabetischer Aborigines durch eine relativ kurz (sieben Wochen) dauernde Rückkehr zur traditionellen Jäger-Sammler-Lebensweise alle Stoffwechselanomalien des Typ-2-Diabetes entweder stark verbessert (Glucosetoleranz, Insulinreaktion auf Glucose) oder völlig normalisiert (Plasmalipide) hatten.«
    O’Dea berichtet nicht, was als Nächstes geschah, ob die Aborigines beschlossen, im Busch zu bleiben oder in die Zivilisation zurückzukehren; aber man kann mit Sicherheit annehmen, dass bei einer Rückkehr zur westlichen Lebensweise auch ihre gesundheitlichen Probleme zurückkamen. Denn wir wissen jetzt seit hundert Jahren, dass es einen Komplex sogenannter Zivilisationskrankheiten gibt – darunter Fettleibigkeit, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck und eine bestimmte Gruppe ernährungsabhängiger Krebsarten -, der fast ausnahmslos aufzutauchen beginnt, sobald ein Volk seine traditionelle Ernährung und Lebensweise aufgibt.

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