Lebens-Mittel
»Schokoladenkuchen« einer Gruppe von Amerikanern und schrieb ihre Wortassoziationen auf. »Schuldgefühle« stand auf der Liste ganz oben. Wenn Sie meinen, das wäre nicht ungewöhnlich, sollten Sie sich die Antwort ansehen, die französische Esser auf die gleiche Aufforderung gegeben haben: »Fest«. (Aber sicher!) Ich halte Rozin für so etwas wie den Psychoanalytiker des Nutritionismus.
Vor ein paar Jahren präsentierte Rozin einer Gruppe von Amerikanern das folgende Szenario: »Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Jahr allein auf einer einsamen Insel und könnten Wasser und ein anderes Lebensmittel mitnehmen. Wählen Sie das Lebensmittel, von dem Sie glauben, dass es am besten für Ihre Gesundheit ist.«
Zur Auswahl standen: Mais, Alfalfasprossen, Hotdogs, Spinat, Pfirsiche, Bananen, Milchschokolade. Bei den Antworten waren die Bananen am populärsten (42 Prozent), gefolgt von Spinat (27 Prozent), Mais (12 Prozent), Alfalfasprossen (7 Prozent), Pfirsichen (5 Prozent), Hotdogs (4 Prozent) und Milchschokolade (3 Prozent). Nur 7 Prozent der Befragten entschieden sich damit für eins der beiden Nahrungsmittel, die das Überleben tatsächlich am besten unterstützen würden: Hotdogs und Milchschokolade.
Offenbar sind auf Rozins einsamer Insel ein paar Wrackteile der Lipid-Hypothese angeschwemmt worden.
»Fett«, schreibt er, scheint in unseren Ernährungsfantasien »selbst in geringen Mengen die Rolle eines Giftes übernommen zu haben«. Warum bloß? Rozin meint: »Wenn man sich so viele Sorgen um die eigene Ernährung macht, kann das nicht gesund sein.« So ist es. Orthorexia nervosa ist eine Essstörung, die vom Diagnostic and Statistic Manual IV (DSM-IV) noch nicht anerkannt ist, aber einige Psychologen haben vor kurzem angeregt, es wäre an der Zeit dafür. Sie haben mehr und mehr mit Patienten zu tun, die an dem »ungesunden Zwang [leiden], sich gesund zu ernähren«.
Dahin also hat es uns gebracht, dass wir die Wissenschaft – und die Wissenschaftsgläubigkeit – an den Kochtopf gelassen haben: Angst und Verunsicherung auch bei den elementarsten Fragen zu Ernährung und Gesundheit und eine stetig abnehmende Fähigkeit, eine der größten Annehmlichkeiten des Lebens ohne Schuldgefühle oder Neurosen zu genießen.
Aber denken wir daran: Der Nutritionismus hat seine Wurzeln zwar in einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise der Ernährung, ist aber keine Wissenschaft, sondern eine Ideologie, für deren Siegeszug die Lebensmittelindustrie, der Journalismus und amtliche Stellen gleichermaßen die Verantwortung tragen. Alle drei haben das vom Nutritionismus ausgehende Signal verstärkt: Der Journalismus hat auf den Titelseiten unkritisch über die neuesten Ernährungsstudien berichtet; die Lebensmittelindustrie hat auf der Basis magerer Gesundheitsbehauptungen zweifelhafte nahrungsähnliche Substanzen vermarktet; und amtliche Stellen haben Ernährungsempfehlungen herausgegeben, die wissenschaftlich unzureichend belegt und durch Druck auf die Politik korrumpiert waren. Die neuartigen Nahrungsprodukte, die von der Industrie anhand der neuesten Nährstoffspekulationen entwickelt wurden, haben sicher dazu beigetragen, die echten Lebensmittel von unserem Teller zu schubsen. Allerdings wäre der Einfluss der Industrie nicht annähernd so groß gewesen, wenn der Nährstoffwahn den Einfluss von Tradition, Gewohnheit und gesundem Menschenverstand – und des Vermittlers all dieser Werte, Muttern – auf unser Essverhalten nicht bereits untergraben hätte.
All das könnte man hinnehmen, wenn das auf Nährstoffe fixierte Essen uns zumindest gesünder gemacht hätte. Das ist nicht der Fall. Nach dreißig Jahren Ernährungsempfehlungen sind wir dicker, kränker und schlechter ernährt. Das ist unser Dilemma. Und deshalb brauchen wir zum Essen eine ganz neue Einstellung.
II
Westliche Ernährung und Zivilisationskrankheiten
1
Der Aborigine in uns
Im Sommer 1982 willigte eine Gruppe von zehn übergewichtigen und diabetischen Aborigines mittleren Alters, die in Siedlungen in der Nähe der Stadt Derby in Westaustralien lebte, ein, an einem ungewöhnlichen Experiment teilzunehmen: Man wollte herausfinden, ob die vorübergehende Umkehrung der von ihnen erlebten Verwestlichung auch ihre gesundheitlichen Probleme rückgängig machen würde. Seit die zehn vor einigen Jahren den Busch verlassen hatten, hatten alle einen Typ-2-Diabetes entwickelt; außerdem zeigten sie Anzeichen für eine Insulinresistenz (die
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