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Lebens-Mittel

Lebens-Mittel

Titel: Lebens-Mittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Pollan
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langes Leben. Aber obwohl es stimmt, dass unsere Lebenserwartung seit 1900 enorm gestiegen ist (in den Vereinigten Staaten von neunundvierzig auf siebenundsiebzig Jahre), wird dieser Anstieg größtenteils auf die Tatsache zurückgeführt, dass mehr Personen die Säuglings- und Kinderzeit überleben; ein Mann, der um 1900 fünfundsechzig war, hatte eine nur rund sechs Jahre geringere Lebenserwartung als ein Mann, der heute fünfundsechzig ist. 17 Auch unter Berücksichtigung der gestiegenen Lebenserwartung sind die Prozentzahlen für chronische Krankheiten wie Krebs und Typ-2-Diabetes heute wesentlich höher als 1900. Das heißt: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Sechzigoder Siebzigjähriger an Krebs oder Typ-2-Diabetes leidet, ist heute sehr viel größer als vor hundert Jahren. (Das Gleiche könnte auch für Herzkrankheiten gelten, aber weil die Herzkrankheitenstatistiken von 1900 lückenhaft sind, ist eine exakte Aussage nicht möglich.)
    Krebs, Herzkrankheiten und viele andere Zivilisationskrankheiten werden inzwischen als Teil des modernen Lebens dermaßen akzeptiert, dass wir uns kaum vorstellen können, dass es einmal anders war oder zwangsläufig so sein muss. Heute meinen die meisten von uns, chronische Krankheiten wären so ähnlich wie das Wetter – eine Gegebenheit, die man hinnehmen muss -, und deshalb sind wir froh, dass den Krankheiten im Gegensatz zum Wetter zumindest mit moderner Medizin zu Leibe gerückt werden kann. Wir sehen Krankheiten rein medizinisch, nicht historisch oder evolutionär. Aber in den Jahrzehnten vor dem 2. Weltkrieg, als die Industrialisierung so vieler Aspekte unseres Lebens noch recht frisch war, schien der Preis, den insbesondere unsere Gesundheit für den »Fortschritt« zahlen musste, vielen Menschen offensichtlicher und daher fragwürdiger.
    Einer der verwegensten Fragesteller der Vorkriegszeit war Weston A. Price, ein in Kanada geborener Zahnarzt, dessen Augenmerk zunehmend einer der eklatanten Fragen galt, die wir gar nicht mehr wahrnehmen. Ähnlich wie Herzkrankheiten gehören chronische Zahnprobleme inzwischen zur Ausstattung des modernen Lebens. Aber wenn Sie darüber nachdenken, ist es merkwürdig, dass jeder einen Zahnarzt braucht und sehr viele von uns Zahnklammern, Wurzelkanalbehandlungen, Weisheitszahnextraktionen und all die anderen Routineverfahren der modernen Gebisserhaltung benötigen. Könnte der Reparaturbedarf an einer Körperpartie, die an einer für unser Überleben so zentralen Tätigkeit wie dem Essen entscheidend beteiligt ist, einen Planungsfehler im menschlichen Körper anzeigen, eine Art Ausrutscher der natürlichen Selektion? Das scheint unwahrscheinlich. Weston Price, der 1870 in einer bäuerlichen Gemeinschaft südlich von Ottawa geboren wurde und eine Zahnarztpraxis in Cleveland/Ohio betrieb, erlebte persönlich mit, wie schnell die Zahnprobleme an der Wende zum 20. Jahrhundert zunahmen; er war überzeugt, die Ursache sei in der modernen Ernährung zu finden. (Er war nicht der Einzige: Um 1930 wurde in medizinischen Kreisen heftig darüber gestritten, ob die Zahnpflege oder die Ernährung der Schlüssel zur Erklärung und Behandlung der Karies sei. Eine öffentliche Debatte über diese Frage zog 1934 in Manhattan Tausende von Zuhörern an, sodass der Saal wegen Überfüllung geschlossen werden musste. Dass letztendlich die Hygiene den Sieg davontrug, hatte mit den Bedürfnissen der Zahnärzte genauso viel zu tun wie mit guter Wissenschaft; die persönliche Hygiene ließ sich einfacher und sehr viel profitabler angehen als die Ernährung und ein ganzes Nahrungssystem.)
    In den 1930er Jahren machte Price seine Zahnarztpraxis dicht, um mit ganzer Energie das Geheimnis der westlichen Ernährung zu ergründen. Er suchte nach dem, was er eine Kontrollgruppe nannte – isoliert lebende Völker, die noch nicht mit modernen Lebensmitteln in Kontakt gekommen waren. Er fand sie unter anderem in den Bergen der Schweiz und Perus, dem afrikanischen Flachland, dem australischen Busch, den äußeren Hebriden-Inseln, den Everglades in Florida, der Küste von Alaska, Inseln Melanesiens und der Torres-Straße sowie Dschungeln auf Neuguinea und Neuseeland. Price machte ein paar bemerkenswerte Entdeckungen, die er in Artikeln für medizinische Fachzeitschriften (unter Titeln wie »New Light On Modern Physical Degeneration from Field Studies Among Primitive Races« – »Neue Erkenntnisse über die moderne körperliche Degeneration anhand von Feldstudien an

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