Lebenschancen
den Ausbau von Vermögensdynastien – ausgehöhlt wird, ist es insofern ein Gebot der Fairness, hier für Ausgleich zu sorgen. Wenn wir hingegen zulassen, dass Leistung und Status sich zunehmend entkoppeln, schadet das der Gesellschaft und damit uns allen. Frust wäre vorprogrammiert, die ökonomische und letztlich auch die politische Ordnung würde massiv an Legitimität einbüßen. Daher geht es heute einmal mehr um die Balance zwischen Ungleichheit und Chancengerechtigkeit, darum, dass Ungleichheiten nicht aushärten und die Abstände zwischen den Schichten nicht unüberbrückbar werden.
Die alte Einsicht, dass ein funktionierender Markt von gesellschaftlichen Voraussetzungen zehrt, die er selbst nicht erzeugen kann, gilt nach wie vor. Wir alle sind im letzten Jahrzehnt Zeugen von Exzessen und massiven Fällen von Marktversagen geworden, vor allem im Zuge der Finanz- und Immobilienkrise. Auch im Hinblick auf die soziale Ungleichheit und die Verteilung von Chancen in der Gesellschaft lässt sich ein solches Marktversagen konstatieren. Märkte können vieles, aber wenn man sie immer weiter dereguliert, bringen sie nun einmal soziale Polarisierung und Exklusion hervor. Nach allem, was wir wissen, tendieren Gesellschaften mit wachsender Ungleichheit zur Schließung, nicht zur Offenheit. Wenn wir hier nicht gegensteuern,
wird dies am Ende das effiziente Funktionieren der Märkte selbst beeinträchtigen.
Es geht aber nicht nur um den Markt. Es geht ebenso um die emanzipatorischen Elemente, die der Idee der Chancengerechtigkeit innewohnen. Zu glauben, der Chancenkredit allein könne den Trend zu mehr Ungleichheit umkehren, wäre naiv – dafür ist das Umverteilungsvolumen nicht groß genug. Um grundlegend umzusteuern, wäre ein Bündel weiterer Maßnahmen mit größerer Eingriffstiefe notwendig, etwa eine gerechtere Beteiligung der Arbeitnehmer an den Unternehmensgewinnen oder eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes.
Eines kann der Lebenschancenkredit allerdings leisten: Er würde dafür sorgen, dass die Menschen über zusätzliche Angebote und erweiterte Optionen verfügen. Gerade in einer Situation, in der der Sozialstaat die Bürger häufig bevormundet und sie mit allzu strikten Regeln gängelt, ist die Logik hinter dem Anrechtsprinzip und dem Chancenkredit auf ein selbstbestimmtes Leben ausgerichtet. Der Freiheitsbegriff, der darin steckt, geht über formale Garantien und die Abwesenheit von Zwang weit hinaus: Er zielt, ganz im Sinne Ralf Dahrendorfs, auf soziale Chancen, darauf, alle Menschen mit Ressourcen auszustatten, die ihnen den Umgang mit Unsicherheiten und Risiken erleichtern. Und er zielt darauf, dass jede und jeder die Möglichkeit bekommt, sich individuell zu entwickeln. Ein solcher Lebenschancenkredit wäre eine moralische Offensive für den Anspruch eines jeden Bürgers auf ein gelingendes Leben. Würde dieses Polster, wie vorgeschlagen, vor allem durch die Beiträge besonders wohlhabender Gruppen finanziert, wären Lebenschancen endlich wieder fairer verteilt.
Es ist in der deutschen öffentlichen Diskussion üblich geworden, neue Ideen und Perspektiven im Bereich der Sozial- und Gesellschaftspolitik in Bausch und Bogen abzulehnen. Die Scheu des politischen Personals vor grundlegenden Veränderungen ist durchaus verständlich, werfen sie doch selten bereits innerhalb
der aktuellen Legislaturperiode Erträge ab. Zudem lauern im politischen Prozess hinter jeder Ecke Vetospieler. Starke Interessengruppe setzen ihre Lobbyisten in Bewegung, um Veränderungen zu boykottieren. Doch wenn es gelänge, die Idee der Lebenschancen in den Mittelpunkt politischer Bemühungen zu stellen, ließen sich womöglich einige Skeptiker mitnehmen und überzeugen. Es ergäbe sich eine Chance, das liberale Verständnis von Anrechten, Chancengerechtigkeit und einer offenen Gesellschaft weit attraktiver erscheinen zu lassen, als es sich in den letzten Jahrzehnten darstellte. Die Verkürzung einer funktionierenden Gesellschaft auf den Markt, den Wettbewerb und das Lied von den Leistungsträgern hat ausgedient. In diesem Sinne braucht es Anrechte auf Lebenschancen, mit denen es gelingen kann, Unsicherheiten zu begegnen, Chancen zu erweitern und Ungerechtigkeiten abzubauen. Denn nur eine Gesellschaft der Chancen ist eine mutige Gesellschaft, die offen und optimistisch in die Zukunft blickt.
Literatur
Ackerman, Bruce A./Anne Alstoff 2001: Die Stakeholder-Gesellschaft. Ein Modell für mehr Chancengleichheit. Frankfurt am
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