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Lebenschancen

Lebenschancen

Titel: Lebenschancen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffen Mau
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Freistellungen, Betreuungszeiten, Weiterbildungsphasen oder Ähnliches zu finanzieren. In den Niederlanden wurden Zeitsparkonten sogar als allgemeines sozialpolitisches Instrument mit ebendieser Zielsetzung eingeführt (Wotschak 2006). Auf diese Konten können Beschäftigte je nach individueller Vereinbarung Teile ihres Lohns einzahlen; außerdem besteht die Möglichkeit, dort Arbeitgeberbeiträge oder Überstunden zu verbuchen. Die angesparte Summe kann dann für Erziehungs- und Pflegezeiten oder Phasen besonderer Belastung genutzt werden. Auch im Siebten Familienbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wird die Einführung von »Optionszeiten« zur Gewinnung
von Zeit für Bildung, Pflege und Erziehung gefordert (Allmendinger et al. 2006). Ein Vorschlag zur Finanzierung sieht vor, diese Leistung sozusagen als Vorschuss auf die Rente zu beziehen und sie dann später mit der Leistungshöhe zu verrechnen.
    Ansparmodelle werden im luftleeren Raum vermutlich auf breite Zustimmung stoßen, das klingt langfristig, nachhaltig und damit vernünftig. Das abstrakte Modell ist freilich nur das eine, heikler wird es, wenn wir uns die Frage stellen, wo der Mammon denn eigentlich herkommen soll. Angesichts der Banken- und Staatsschuldenkrise und in Anbetracht der Tatsache, dass der Transferstaat in den letzten Jahrzehnten eher gezwungen war, seine Ausgaben zu kürzen, mag die Idee des Lebenschancenkredits wie ein weiterer naiver Vorschlag wirken, bei dem der Staat den Bürgern am Ende Geld aus der linken Tasche zieht, um es ihnen dann in die rechte zu stecken.
    Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ganz klar betonen, dass der Kredit nur eine Maßnahme im Rahmen einer insgesamt an der Idee der Lebenschancen orientierten Politik sein kann. Mir geht es hier also zunächst einmal um eine ganz neue Perspektive für die Sozialpolitik. Würde man diese allgemein auf die Mehrung von Lebenschancen hin ausrichten, gäbe es eine ganze Reihe institutioneller Stellschrauben, an denen man drehen könnte, ohne das dadurch unbedingt ein finanzieller Mehraufwand entstünde (man denke beispielsweise an die Sortierprozesse im Bildungswesen und bestimmte Regelungen, die den Arbeitsmarkt betreffen). Bei anderen Maßnahmen wiederum kann man sich nicht um die Kostenfrage drücken, und zu diesen zählt auch der Chancenkredit. Und somit wären wir schließlich auf dem verminten Gelände der Steuerpolitik angekommen.
    Wir sind, von vielen Beobachtern zunächst unbemerkt, in eine zunehmend dramatische Verteilungskrise geraten, in der sich öffentliche Armut und (sehr ungleich verteilter) privater Reichtum gegenüberstehen. Viele politische Kräfte, auch Sozialdemokraten, gingen in den neunziger und nuller Jahren davon
aus, dass steuerliche Entlastungen für besonders leistungsfähige Gruppen wichtig seien, damit diese ihr Potenzial (auch zum Nutzen der Gesellschaft) voll ausschöpfen können. Außerdem befürchtete man, dass sich »der bessergestellte Teil der Wählerschaft […] den hohen Steuersätzen« ohnehin widersetzen würde (Giddens 2001: 108). So überrascht es nicht, dass Menschen mit sehr hohen Einkommen, Erben sowie die Bezieher von Einkünften aus Vermögen heute sehr viel besser dastehen als vor zwei oder drei Jahrzehnten. Für diese Gruppen ist es wesentlich leichter geworden, sich staatlichen Solidaritätszumutungen zu entziehen und sich durch Zugangsbarrieren vor Konkurrenz zu schützen. Die lange Zeit vorherrschende Entlastungsideologie und die wachsenden Ungleichgewichte, die sich auf Wettbewerbsmärkten notwendigerweise ergeben, haben letztlich die Chancengerechtigkeit in der Gesellschaft unterminiert (Crouch 2011: 71 f.). Es wäre sicher vermessen zu glauben, man könne in modernen westlichen Staaten eine Situation der totalen Chancengleichheit herstellen, in der alle Menschen bei der Geburt oder mit 18 Jahren von derselben Linie aus ins Leben starten. Es wird immer Familien geben, die ihren Kindern dabei mehr mit auf den Weg geben können als andere. Dennoch müssen wir uns heute die Frage stellen, wie wir der wachsenden Chancenungleichheit begegnen können, und ganz ohne Umverteilung und eine Reform des Steuersystems wird das nicht gehen. Zu überlegen wäre insofern, wo Geld eingesammelt werden könnte, ohne dass dadurch wiederum die Lebenschancen anderer gravierend beschnitten werden.
    Aktuell liegen angesichts der Banken- und Staatsschuldenkrise bereits Vorschläge für eine Neugestaltung des

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