Lebenslang
weiß ich. Jeder Morgen ist ein Kampf gegen die Uhr, den Julia nur selten gewinnt und der uns an den Rand der Beherrschung treibt. Doch im Gegensatz zu Astrid gestehe ich ihr zu, den Fluss der Zeit anders wahrzunehmen. Ich beneide meine Tochter um die Sorglosigkeit, mit der sie in den Tag hineinlebt, und wünsche mir manchmal dieselbe Unbekümmertheit. Julia ist kein Springpferd und schon gar nicht für die Dressur geeignet. Zu sehr finde ich diese Eigenschaft in mir selbst wieder. Und zu sehr erinnere ich mich an die schlimmen Tage von Astrids Depression, an denen Julias Lächeln mein Leben rettete. Eigentlich rettet sie es sogar heute noch. Ich muss an das leere Blatt Papier auf meinem Schreibtisch denken, weiß wie unberührter Schnee, und hole das Besteck aus der Küche.
Oliver hat die Initiative ergriffen und sich mit der Fleischgabel vor den Grill gestellt. Er gehört zur Gattung der Jäger und Sammler. Deswegen glaubt er zu wissen, wie man mit Fleisch umgehen muss, damit es zart bleibt und nicht austrocknet.
Es gibt einen Grund, warum ich ihn meinen Bruder nenne. Auch er hat zum weitläufigen Unterstützerkreis der Steilberg-Stiftung gehört, als es uns noch nicht so gut ging. Dafür haben wir ihm das Bett in unserem Gästezimmer zur Verfügung gestellt, als Carola ihn rausschmiss. Seitdem ist seine Exfrau nicht mehr sonderlich gut auf mich zu sprechen. Sie hätte ihn am liebsten auf einer Parkbank schlafend gesehen. Astrid und sie sind trotzdem noch die besten Freundinnen. Manchmal frage ich mich, worüber die beiden reden, wenn sie alleine sind. Andererseits, so genau möchte ich das gar nicht wissen. Mein Bedarf an weiblicher Gruppendynamik ist seit meiner Zeit als Quotenpapa in der kirchlichen Krabbelgruppe für den Rest meines Lebens gedeckt.
»Kommst du gut mit deiner Arbeit voran?«, will Oliver wissen.
»Du bist schon wie Astrid. Sie fragt mich auch immer.«
»Sei doch froh. Also?«
Ich weiß, dass seine Frage echtes Interesse ausdrückt. Insgeheim beneidet mich Oliver um meine Arbeit. Auf den ersten Blick wirkt die Art und Weise, wie ich den Tag verbringe, ja auch sehr verführerisch. Besonders für jemand wie ihn, der jeden Morgen zehn, elf Stunden ins Hamsterrad steigt und sich mit anstrengenden Kollegen herumschlagen muss. Andererseits könnte er einfach die Bank wechseln oder eine eigene Firma aufmachen, wenn er es möchte. Ich hingegen werde den Rest meiner Tage alleine mit Tusche, Feder und Pinsel verbringen.
»Es ist zäh«, gebe ich zu.
»Hast du dich leer gezeichnet?«
Ich muss lachen, aber irgendwie trifft diese Frage den Nagel auf den Kopf. »Ja. Vielleicht.« Die Vorstellung, dass mein Kopf ein Krug ist, dessen Inhalt langsam zur Neige geht, finde ich aber nur im ersten Moment lustig. Eigentlich ist sie beängstigend.
Oliver nickt ernst, als verstünde er mich, und dreht das Fleisch um, von dem seine neue Freundin nichts essen wird. »Wann fahrt ihr in Urlaub?«
»Übernächste Woche und wahrscheinlich das letzte Mal zu dritt. Julia wollte schon dieses Jahr mit ihren Freundinnen ins Zeltlager fahren, weit weg von den besitzergreifenden Eltern«, sage ich. »Mir war es egal, aber Astrid hat sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Der Familienurlaub ist ihr heilig.«
Oliver rollt mit den Augen. »O ja, kenne ich.«
»Ich kann aber auch Astrid verstehen«, sage ich. »Die Zeit vergeht so schnell. Es dauert nicht mehr lange, dann ist Julia mit der Schule fertig und zieht aus.«
Oliver schaut mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Fabian, bis dahin sind es noch acht Jahre! Mindestens!«
Ich zucke mit den Schultern. »Was sind für uns denn inzwischen schon acht Jahre? Wir sind alte Säcke, die nur noch für ihre Kinder leben.«
Er schaut mich prüfend an. »Aber mit dir und Astrid läuft es gut, oder?«
»So gut es läuft, wenn man zehn Jahre lang verheiratet ist. Du müsstest das doch am besten wissen.«
Monique unterhält sich wenig begeistert mit Claudia und Robert, die höflich genug sind, sie nicht zu ignorieren. »Ganz ehrlich? Am liebsten will ich wieder zurück zu Carola und den Kindern«, flüstert Oliver.
Ich grinse.
»Lach nicht! Ein bisschen Abwechslung ist ja ganz nett, aber nichts ist mehr so wie früher. Wenn du verstehst, was ich meine.«
»Nein, verstehe ich nicht«, sage ich.
Oliver seufzt und beugt sich zu mir herab. Er ist einen halben Kopf größer als ich, doch wirkt er jetzt auf einmal unsicher. »Man verliebt sich nicht mehr so
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