Lebenslang
Schlag, noch einen, schließlich einen dritten. Die Tür flog auf, und Männer stürmten herein.
»Stopp!«, schrie eine Stimme. »Lassen Sie das Messer fallen!«
Erst jetzt wagte Yvonne es wieder, die Augen zu öffnen. Zwei Polizisten hatten ihre Waffen auf Steilberg angelegt, dessen Hemd jetzt voller Blut war. Doch er hielt nicht inne. Wie von Sinnen stach er auf Wieland ein, bis ihn eine Kugel traf. Steilberg wankte ein wenig zur Seite und stach weiter zu. Dann wurde wieder geschossen, und diesmal zielte der Polizist höher. Steilbergs Kopf flog zur Seite, und er sackte weg.
Die beiden Beamten sahen Yvonne, erkannten aber, dass der Mann auf dem Stuhl dringender Hilfe benötigte. Es war unglaublich, aber Wieland lebte noch.
Dann riss ihr jemand den Knebel aus dem Mund, schnitt die Kabelbinder durch, mit denen sie gefesselt worden war. »Scht«, machte Schumacher und nahm sie in den Arm. »Es ist gut, es ist alles gut.«
Yvonne spürte, wie sie wieder der Schwindel überfiel, die Füße kribbelten, der Körper verkrampfte. Die Aura war mächtig, so mächtig wie noch nie zuvor. Yvonne stieß einen würgenden Laut aus, und dann schwand ihr Bewusstsein. Doch bevor es sich auf diesen nadelspitzen Punkt konzentrierte, stieß sie drei Worte hervor.
»Ich will leben.«
I hr Kopf war kahl, doch diesmal hatte sie sich die Haare nicht selbst abrasiert. Es war Thomas, der das für Yvonne getan hatte.
»Wirklich, du solltest dir überlegen, das öfter zu tun«, sagte er, als er die letzten Stoppeln von ihrer Schulter wischte. »Hermann hat recht, es steht dir gut«
Ihr war eigentlich nicht zum Lachen zumute, aber trotzdem musste sie grinsen. »Warten wir’s ab«, sagte Yvonne und stand auf. Das Rohypnol, das man ihr gegeben hatte, wirkte vorzüglich. Sie fühlte sich warm und weich und leicht. Florian musste sie stützen, als sie sich auf die Bettkante setzte. Auch er war nervös.
»Ich frage mich, wie es sich anfühlt, wenn man tot ist«, sagte sie.
»Du wirst es uns erzählen können, wenn du wieder aus der Narkose erwacht bist«, sagte Thomas.
» Wenn ich aus der Narkose erwache, ja.«
»Das wirst du.« Er drückte ihre Hand. »Wir werden hier auf dich warten. Egal, wie lange es dauert.«
Normalerweise wurden Hirnoperationen dieser Art nur bei lokaler Betäubung durchgeführt. Man musste vorsichtig sein, um nicht wichtige Hirnregionen zu zerstören. Die Vorstellung, bei solch einem Eingriff bei vollem Bewusstsein zu sein, hatte beinahe dazu geführt, dass Yvonne ihre Entscheidung doch noch revidiert hätte. Aber die Position der Kugel war so gefährlich, dass Dr. Baumann auf eine andere Methode setzte. Er hatte Angst, die Hirnschlagader zu verletzen, die mittlerweile eine gefährliche Ausbuchtung hatte. Zum Abszess war ein Aneurysma gekommen, ein zusätzliches Risiko. Also würde er Yvonnes Körpertemperatur so tief herabsetzen, dass ihr Herz gestoppt werden konnte. Eine halbe Stunde würde sie in diesem Zustand bleiben. In dieser Zeit musste Dr. Baumann seine Arbeit erledigt haben. Die Vorbereitungen waren so umfangreich, dass man acht Stunden für die gesamte Operation eingeplant hatte, wahrscheinlich würde sie länger dauern.
Yvonne legte sich auf ihr Bett und schloss die Augen. Die Tür wurde geöffnet, und ein Pfleger erschien. »Sind alle so weit?«, fragte er.
Thomas holte tief Luft und gab Yvonne einen Kuss. Florian drückte ihre Hand.
»Wir sind so weit.«
Yvonne wurde aus dem Zimmer geschoben und zum Fahrstuhl gebracht. Durch das Rohypnol dämmerte sie immer wieder weg. Erst im OP öffnete sie wieder die Augen. Eine Schwester berührte sie am Arm. »Wir legen Sie jetzt auf den Tisch«, sagte sie.
»Bin ich hier auf einer Party?«, murmelte Yvonne mit verwaschener Stimme. Ein gutes Dutzend Ärzte und OP-Schwestern bereitete sich auf seine Arbeit vor.
Ein Gesicht beugte sich über Yvonne. Sie sah nur zwei Augen, eine bunte Haube und einen Mundschutz. »Ja. Und alle sind nur Ihretwegen hier«, sagte Dr. Baumann. »Heute ist Ihr Glückstag. Wir erfüllen Ihnen sogar Musikwünsche.«
»Knockin’ on Heaven’s Door«, sagte Yvonne.
»Sie machen Witze!«, entfuhr es ihm.
»Ja«, sagte sie und grinste.
»Sie werden sich auf eine erstaunliche Reise begeben. Eine Reise, die nur ganz wenige vor Ihnen angetreten haben.«
»Sie meinen, von denen nur wenige zurückgekehrt sind«, sagte sie. »Vermasseln Sie’s nur nicht.«
»Auf gar keinen Fall.«
Sie spürte, wie eine Nadel in ihren Handrücken
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