Lebenslang
Astrid in ihrem Bett lag und wahlweise schlief oder die Decke anstarrte.
Nach einem Monat war ich mit den Nerven am Ende. Wir schrien uns nur noch an. Oder vielmehr: Ich schrie, denn Astrid verstummte in dieser Zeit fast vollständig. Sie wusch sich nicht, schlief im selben T-Shirt und aß nur noch Äpfel und Knäckebrot, weil sie der Überzeugung war, durch die Schwangerschaft dick und fett geworden zu sein. Sie war in ihren düsteren Gedanken gefangen, und ich blieb außen vor. Erst meine Drohung, sie zu verlassen und Julia mitzunehmen, wenn sie nicht zu einem Arzt ginge, riss sie aus ihrer Lethargie. Sie ging zu einem Psychiater, den ihr die Hebamme empfahl. Aber für sie war der Druck, den ich damals auf sie ausübte, eine Erpressung, die sie mir bis heute nicht verziehen hat.
Als es Astrid endlich besser ging, nahm sie ihre Arbeit wieder auf. Sie arbeitet als Medizinisch-Technische-Assistentin in einem Chemielabor im Hanauer Norden. Die Halbtagsstelle ist gut bezahlt. Damals waren wir auf ihr regelmäßiges Einkommen angewiesen, denn meine geringen Honorare als Grafiker wurden so unregelmäßig überwiesen, dass uns sonst die Familie hätte unterstützen müssen.
Also war ich es, der mit Julia Krabbelgruppen, Babyschwimmkurse und Miniclubs besuchte, und war auch sonst allein unter Frauen. Die Vormittage, an denen es kein Programm gab, waren die schlimmsten und die schönsten zugleich. Während sich andere Mütter miteinander zum Frühstück verabredeten, blieb ich als Mann außen vor und hockte mit meiner Tochter zu Hause. Oder ging bei schönem Wetter in der Fasanerie spazieren, die wir zu dieser Tageszeit so gut wie alleine für uns hatten. Ich genoss diese stillen Stunden. Julia war ein genügsames kleines Mädchen, neugierig und aufmerksam und immer bester Laune. Finanziell waren es harte Zeiten. Manchmal war schon am Zwanzigsten für uns Monatsende. Aber das störte mich nicht. Dieses papafixierte Wunderkind vertrieb tatsächlich alleine durch seine Anwesenheit jeden trüben Gedanken. Und eines Tages verschaffte mir ein Freund den Kontakt zu einem der großen Zeitschriftenverlage.
Er selber war so mit Aufträgen zugedeckt, dass ein paar Krümel von seinem reich gedeckten Tisch auch für mich abfielen. Erst waren es nur kleinere Zeichnungen. Schließlich bekam ich meinen ersten wirklich wichtigen Job: das Titelbild für eine Zeitschrift zu zeichnen. Nach all den mageren Jahren platzte endlich der Knoten. Anfrage kam auf Anfrage, eine besser honoriert als die andere. Schlagartig hatte ich mir einen Namen gemacht, und wir waren aller Sorgen ledig. Wir konnten unsere Schulden begleichen, und schließlich bezogen wir die kleine Doppelhaushälfte inmitten eines Neubaugebiets, in der wir heute noch leben.
Es ist eine ruhige Wohngegend, sehr angenehm. Als mich meine Eltern das erste Mal hier besuchten, waren sie neidisch, und das will etwas heißen. Julia wusste schon immer, was sie wollte, und suchte sich natürlich das größte Zimmer aus. Es hat einen Balkon mit Blick auf den Garten. Mit ihren drei Jahren war sie nun auch endlich ein Fall für den Kindergarten.
Wir hatten Glück. Es gab keine Wartezeit, und die Gebühren waren bezahlbar. Langsam entspannte sich unser Leben. Hier ist es perfekt. Astrid kann mit dem Bus zur Arbeit fahren, es gibt eine direkte Verbindung zum Frankfurter Hauptbahnhof, und Julia kann draußen auf der Straße spielen, ohne gleich von einem Auto überfahren zu werden. Zum ersten Mal in meinem Leben verspüre ich nicht mehr diese innere Unruhe, die wohl auch Zugvögel antreibt. Wir sind angekommen. Wir haben ein Zuhause.
Der Bügelverschluss der Bierflasche springt auf, und ich nehme einen tiefen Schluck, während die Holzkohle des Grills knistert und langsam einen weißen Ascherand bekommt. Ich kurbele die Markise hinunter. Es ist warm hier draußen, aber nicht heiß. Im Minutentakt überqueren die Flugzeuge unser Haus im Anflug auf Frankfurt, die Landeklappen ausgefahren. Aber der Lärm ist erträglich. In Neu-Isenburg ist es schlimmer, ganz zu schweigen von Offenbach oder Sachsenhausen, wo sich durch das abgelassene Kerosin oft ein schmieriger Film an der Außenseite der Fenster bildet. Wenn der Wind nicht gedreht hätte, wäre es heute still wie in einer Schrebergartenkolonie.
Astrid bringt ein Tablett mit den Salaten, und ich decke den Tisch. Es ist der erste Tag der Fußballweltmeisterschaft, wenn Deutschlands Auftritt auch erst später in der Woche sein wird. Ich bin kein
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