Lebenslang Ist Nicht Genug
reden. Aber ich gehöre nicht dazu. Ich habe Ihnen nichts zu sagen.« Gail sah sich im Zimmer um. Sie suchte nach Worten, die ihr den Weg zum Ausgang ebnen würden. »In den letzten acht Monaten habe ich nur dann einen Funken Leben verspürt, wenn ich mich draußen herumtrieb und dem Tod in die Arme zu laufen suchte! Und wenn Sie bis in alle Ewigkeit hier sitzen bleiben und mir erzählen, daß mein Mann und meine Tochter mich lieben und brauchen, dann kann ich Ihnen nur antworten, daß ich das alles weiß und daß auch ich sie liebe, aber daß es mir nicht hilft. Es ändert nichts an meinem Entschluß. Ich hatte eine glückliche Natur, Dr. Manoff. Ich war eine von denen, die ein halbleeres Glas sehen und sagen, es sei halbvoll. Ich glaubte allen Ernstes, jeder neue Tag sei der strahlende Beginn meines weiteren Lebens.«
»Ich hatte mal einen Kopf voller Haare«, sagte Dr. Manoff sanft, und Gail fing an zu lachen. Dann brach sie plötzlich in Tränen aus, die sie jedoch mit einer ungeduldigen Handbewegung fortwischte. »Ich habe eine Freundin«, begann sie, nachdem sie sich die letzte Träne aus dem Augenwinkel getupft hatte. »Vor ein paar Jahren hat ihr Mann sie verlassen. Er ging mit seiner Maniküre durch. Und als er auszog, da sagte er zu meiner Freundin, meiner früheren Freundin... na ja, sie war eigentlich nie richtig meine Freundin, sondern eher eine Bekannte... Jedenfalls, als ihr Mann sie verließ, da begründete er es damit, daß er die täglichen Szenen und Kämpfe satt habe. Er wollte keinen Streit mehr.« Gail lächelte Dr. Manoff zu. »Und wissen Sie, was meine Freundin, diese Bekannte eben, wissen Sie, was die ihm geantwortet hat?« Dr. Manoff sah sie erwartungsvoll an. »Sie sagte: >Du willst nicht mehr kämpfen? Dann leg dich hin und stirb.< Genau das hat sie gesagt. Und es war vermutlich die scharfsinnigste Bemerkung, die je über ihre Lippen kam«, stellte Gail mit wachsendem Erstaunen fest. »Ich hab’ das nur bisher nie richtig verstanden.« Sie schüttelte den
Kopf. »Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen diese alte Geschichte erzählt habe.«
»Vielleicht, weil Sie auch nicht mehr kämpfen wollen.«
Gail strich sich die Haare aus der Stirn. »Ja, das wollte ich wohl damit sagen.« Sie atmete tief. »Ich bin müde, Dr. Manoff. Und ich möchte kein Rezept, das mir hilft, mich besser zu fühlen. Das Leben besteht aus zu vielen Kämpfen. Ich möchte tot sein.«
»Warum sind Sie’s dann nicht?« fragte er.
Einen Moment lang war Gail durch seine Frage wie gelähmt. Dann begann ihr Herz rasend schnell zu klopfen. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie schließlich. »Es reicht wohl nicht, sich etwas bloß zu wünschen.« Sie schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich fehlt mir einfach der Mut.« Sie erinnerte sich, daß sie vor Monaten ihrer Mutter gegenüber eine ähnliche Bemerkung gemacht hatte. »Und die Pistole«, fügte sie leise hinzu, als ihr einfiel, was sie damals noch gesagt hatte.
»Es gibt andere Möglichkeiten.« Gail begriff sehr wohl, daß er nicht vorhatte, sie über die verschiedenen Selbstmordpraktiken aufzuklären, sondern im Gegenteil versuchte, ihr das Geständnis abzuringen, daß sie sich trotz allem für das Leben entschieden habe.
»Ich sag’s ja, mir fehlt der Mut«, wiederholte sie. »Außerdem hat Jack Ihnen gewiß schon gesagt, daß ich probiert habe, die Drecksarbeit jemand anderem aufzuhängen.«
»Das ist es ja grade! Als Sie im Park überfallen wurden, haben Sie sich gewehrt. Als Sie in der Pension angegriffen wurden, haben Sie nach der Polizei gerufen.«
»Ich hatte Angst. Es war keine Zeit nachzudenken. Ich habe aus reinem Reflex reagiert.«
»Sie haben sich instinktiv gewehrt.«
»Ja. Wunderbarer Schöpfungseinfall, dieser Instinkt, nicht?« meinte sie sarkastisch.
»Der Überlebenswille ist in jedem Menschen mächtig.«
Gail schwieg.
»Ich wollte nur sagen...«
»Lassen Sie, Doktor, ich weiß schon«, unterbrach sie ihn. »Sie versuchen mir einzureden, daß ein kleiner Teil von mir gar nicht sterben will. Denn sonst würde ich eine Überdosis Schlaftabletten nehmen oder mir die Pulsadern aufschneiden oder’ne Portion Abflußreiniger schlucken oder was Leute, die ernsthaft zu sterben versuchen, sonst noch alles anstellen. Vielleicht haben Sie sogar recht. Ich weiß es nicht.« Sie senkte den Blick. »Es ist mir, offen gesagt, auch egal.«
Sie stand auf. Für sie war die Sitzung beendet.
»Und wenn die Polizei nun den Mann faßt, der Ihr Kind
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