Lebenslang Ist Nicht Genug
hab’ gestern mit ihr telefoniert. Sie hat einen neuen Freund, den sie uns vorstellen möchte. Ich dachte, wir könnten gemeinsam zu Abend essen und im Plaza übernachten.«
»Und was wird mit Jennifer?«
»Mach dir um mich keine Sorgen. Eddie und ich gehen zu’ner Party. Und schlafen kann ich bei Dad.«
»Ich weiß nicht.« Gail zögerte. »Vielleicht haben Mark und Julie selber was vor. Könnte doch sein, daß sie wegfahren...«
»Das tun sie bestimmt nicht«, warf Jennifer ein. »Julie hat sich in letzter Zeit nicht besonders wohl gefühlt.«
»Nein? Aber wenn sie krank ist, wird sie schon gar nicht wollen, daß...«
»Sie ist nicht krank. Sie ist schwanger.«
»Sie ist was?« fragte Gail, obwohl sie Jennifer sehr wohl verstanden hatte.
»Julie bekommt ein Baby.«
»Wann?« Gail tastete nach dem Kettchen an ihrem Hals. »Erst nächsten August. Sie hat grade das Testergebnis gekriegt.«
Gail ließ den Nerz von ihren Schultern gleiten. »Ich wußte gar nicht, daß sie Kinder wollten.«
»Wollten sie eigentlich auch nicht. Jedenfalls früher nicht.«
Gail nahm das Kettchen ab. »Tja, dann vergiß nicht, den beiden meinen Glückwunsch auszurichten. Und sag deinem Vater vielen Dank von mir... weil er dir mit der Kette geholfen hat. Das war sehr großzügig von ihm.«
»Er meinte, sie sei wie für dich gemacht«, wiederholte Jennifer.
»Fröhliche Weihnachten.«
»Na, wie gefällt er dir?« fragte Carol.
»Ich finde, er sieht Dad ähnlich«, sagte Gail. Die beiden Schwestern standen in der Küche von Carols winzigem Apartment. Der Hauptgang war beendet, das Geschirr abgetragen, und jetzt warteten sie darauf, daß der Kaffee durchlief. »Machst du Witze? Wie Dad?! Das kann doch nicht dein Ernst sein.«
»Ja, siehst du die Ähnlichkeit denn nicht?«
»Ich meine, er sieht’n bißchen wie Jack Nicholson aus.«
»Jack Nicholson hat entfernte Ähnlichkeit mit Dad.«
»Ist mir nie aufgefallen.«
»Dad kann sich durchaus sehen lassen«, versicherte Gail ihrer jüngeren Schwester und kicherte vergnügt. Sie war fast den ganzen Abend guter Stimmung gewesen und hatte viel gelacht. Sie hatte sich wirklich amüsiert und sich nur ab und zu darüber gewundert, daß es ihr gelang, ihre Erinnerungen zu verdrängen.
»Weißt du, was du mir da erzählst? Jetzt ist die Verwandlung komplett. Ich klinge sowieso schon von Tag zu Tag mehr wie Mom. Kannst du dir vorstellen, daß ich sogar angefangen habe, genau wie sie dauernd die Möbel umzustellen? Und nun willst du mir einreden, daß mein neuer Freund aussieht wie mein Vater. Also das ist einfach zuviel!«
»Ach, nimm’s nicht so schwer«, scherzte Gail. »Ist doch sowieso bloß für zwei Jahre.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Die beiden Schwestern tauschten einen liebevollen Blick.
»Es scheint dir viel besser zu gehen«, sagte Carol schließlich.
»Wirklich?« fragte Gail. Der Gedanke beunruhigte sie, ohne daß sie hätte sagen können, warum.
Um Mitternacht erhoben sie ihre Gläser und stießen auf das neue Jahr an.
Als Jack sich zu ihr beugte und ihr einen Kuß geben wollte, stand Gail hastig auf und stellte ihr Glas weg.
»Was hast du denn?« fragte Jack.
»Ich denke, es wird Zeit, daß wir gehen.«
»Was?« rief Carol. »Der Abend fängt doch erst an. Fühlst du dich nicht wohl?«
»Ich möchte gehen«, wiederholte Gail, ohne eine Erklärung zu geben.
»Gail ist müde«, entschuldigte Jack sie. »Wir werden ins Hotel fahren und uns mal richtig ausschlafen.«
»Ich will aber nicht ins Hotel. Ich will nach Hause.«
»Heute nacht noch? Gail, ich bitte dich, wir können doch gleich morgen früh fahren.«
»Es ist schon morgen.«
»Aber was ist denn passiert?« fragte Carol verwirrt. Steve, ihr neuer Freund, saß stumm auf der Couch und beobachtete die Szene mit einer Mischung aus Neugier und Verlegenheit. »Vor ein paar Minuten haben wir doch noch miteinander gelacht und uns alle prächtig amüsiert!«
»Das ist es ja gerade!« Gail lief gequält im Zimmer auf und ab. »Ich habe kein Recht, mich zu amüsieren. Verstehst du das denn nicht? Vergessen, lachen, plötzlich wieder Freude am Leben haben, wenn auch nur ein wenig - das alles ist Verrat an Cindy! Wie darf ich mir erlauben, an irgend etwas Freude zu empfinden, wo doch meine sechsjährige Tochter ermordet wurde? Kannst du mir das sagen?!«
Die Frage blieb unbeantwortet im Raum stehen. Es gab keine Antwort darauf. Jack half Gail in den neuen Pelzmantel. Auf der langen Heimfahrt,
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