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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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gewesen, wenn er einen weißen Kittel getragen hätte. Dann wäre es nicht so schwierig, ihn einzuschätzen.
    »Worüber denken Sie nach?« fragte er.
    »Über meine Kindheit«, log sie.
    »Ihre Kindheit?« Sein Interesse war geweckt.
    »Meine Mutter war verrückt.«
    »Möchten Sie mir von ihr erzählen?«
    »Eigentlich nicht.«
    »In welcher Beziehung war sie verrückt?«
    Gail zuckte die Achseln. Das machte Spaß. Und es war so leicht. Kein Wunder, daß Geisteskranke es immer wieder schafften, lange vor ihrer Heilung entlassen zu werden.
    »Erzählen Sie mir von Ihrer Mutter. In welcher Beziehung war sie verrückt?« wiederholte Dr. Manoff seine Frage.
    »Es machte ihr Spaß, Mutter zu sein.«
    »Und das finden Sie verrückt?«
    »In der heutigen Zeit sieht man es so. Sie begriff nicht, daß ihre Kinder ihr die Nerven raubten, daß ihr Leben erfüllter gewesen
wäre, wenn sie einen Beruf gehabt hätte, und sie konnte nicht einsehen, daß Kinder lästige Quälgeister sind, die einen bei jeder kreativen Beschäftigung stören.«
    »Aber die meisten Frauen aus der Generation Ihrer Mutter blieben doch zu Hause bei ihren Kindern.« Gail konnte den Blick nicht von seinen Augen lösen. »Von wem sprechen Sie in Wirklichkeit, Gail?«
    Es war also doch nicht so einfach, dachte sie und gab dem guten Doktor ein paar Pluspunkte. Sie würde es klüger anstellen müssen. Gail zwang sich, den Blick zu senken. Sie schaute in ihren Schoß.
    »Wie alt sind Sie, Dr. Manoff?«
    »Fünfunddreißig.«
    »Ich bin vierzig.« Sie hielt inne. Beide warteten sie darauf, daß der andere weiterspräche. »Sie müßten jetzt eigentlich sagen: >Wirklich? Sie sehen aber viel jünger aus.<«
    »Was für ein Gefühl ist das für Sie, vierzig zu sein?« fragte er statt dessen.
    Gail hob die Schultern. »Alter hat für mich nie viel bedeutet.«
    »Aber Sie haben das Thema angeschnitten.«
    »Nur um etwas zu sagen. Ich soll Ihnen doch was erzählen, nicht?«
    »Nur, wenn Sie möchten.«
    »Nein, das möchte ich nicht. Ich möchte überhaupt nicht hier sitzen.«
    »Warum sind Sie dann gekommen?«
    »Weil mein Mann darauf bestand.«
    »Sie sind also ihm zuliebe hier?«
    »Nach dem, was in Newark passiert ist, hatte ich wohl kaum eine andere Wahl. Ich dachte, wenn ich einwillige und zu Ihnen komme, würde er mich für eine Weile in Ruhe lassen.«
    »Möchten Sie denn in Ruhe gelassen werden?«
    »Jawohl, genau das.«
    Sie schwiegen beide.

    »Wenn Sie sich dagegen sträuben, kann ich Ihnen nicht helfen«, sagte Dr. Manoff, als er merkte, daß sie entschlossen war, das Schweigen nicht zu brechen.
    »Ich will nicht, daß Sie mir >helfen<.«
    »Warum nicht?«
    »Weil ich keine Hilfe möchte. Ich möchte sterben.«
    Sie sah den Schatten, der über sein Gesicht huschte. »Ich habe zwei Söhne«, sagte er leise. »Der eine ist fünf, der andere noch nicht ganz drei Jahre alt. Manchmal habe ich Alpträume, in denen einem von meinen Jungen etwas zustößt. Ich kann mir nichts Schrecklicheres vorstellen. Und das geht, glaube ich, den meisten Eltern so.« Er schluckte, und Gail spürte, daß seine Rührung echt war und nicht gespielt. »Wir werden dazu erzogen, Verlust ertragen zu lernen. Freunde verlassen uns, Eltern sterben, ganze Völker werden ausgelöscht. Aber ich bin davon überzeugt, daß nichts auf der Welt einen Menschen auf den Verlust seines Kindes vorbereiten kann. Und wenn ein Kind so umkommt, wie Ihre Tochter... Ich kann das wahre Ausmaß Ihres Schmerzes nicht einmal erahnen. Ich will nicht versuchen, Sie zu täuschen. Ich kann mich zwar an Ihre Stelle versetzen, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Ich glaube Ihnen, wenn Sie sagen, daß Sie sich den Tod wünschen. Ich denke, ich würde wahrscheinlich genauso empfinden.«
    »Und wie wollen Sie mir dann helfen?« fragte Gail, dankbar für seine Aufrichtigkeit.
    »Indem ich Ihnen zuhöre«, antwortete er schlicht.
    Gail forschte in seinen Augen. »Was erwarten Sie von mir? Ich habe alle vorgeschriebenen Phasen durchgemacht. Ich war voller Haß, habe meinen Glauben verloren, habe versucht, mit Gott zu verhandeln. Ich habe so getan, als sei es gar nicht geschehen, und ich hab’s, verdammt noch mal, sogar akzeptiert. Aber ich möchte immer noch sterben.« Sie stieß einen Seufzer aus, der zitternd im Raum schwebte. »Ich weiß Ihre Arbeit zu schätzen, Dr. Manoff. Ich finde es großartig, daß Sie bereit sind, Menschen zuzuhören,
die sich aussprechen möchten, die das Bedürfnis haben, mit jemandem zu

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