Lebenslang Ist Nicht Genug
aufzunehmen. Nach einer Weile, wahrscheinlich schon in ein paar Tagen, wird Jack wieder zur Arbeit gehen, Jennifer wird in die Schule zurückkehren, meine Eltern werden nach Florida fliegen, und Carol wird nach New York fahren. Alle werden zu ihrer Routine zurückfinden. Die Anteilnahme der Öffentlichkeit wird von neuen Schlagzeilen in Anspruch genommen werden. Cindy wird vom Leben zur Statistik befördert.
Gail schaute ihren Vater an, der am Ende der Reihe saß. Seine dunkle Haut wirkte wie Leder, sein graues Haar war schütter geworden, und seine blauen Augen, um die früher fast immer ein lustiges Zwinkern spielte, waren stumpf und wäßrig. Neben ihm saß Gails Mutter. Ihr Gesicht war unter der Sonnenbräune fahl und abgespannt, das kurze, rotblonde Haar hatte sie unter einem ihrer vielen Chiffonschals verborgen, die gefalteten Hände zitterten. Carol, die rechts neben ihrer Mutter saß, beugte sich vor und legte ihr die Hand auf den Arm. Carols Hand war ruhig und sicher, aber ihr Gesicht wirkte genauso aufgewühlt wie das ihrer Mutter. Gails Schwester, die ungeachtet ihrer Zähigkeit immer schon zart und zerbrechlich schien, hatte in der letzten Woche
noch an Gewicht verloren. Sie rauchte zwei Schachteln Zigaretten pro Tag, obwohl sie dieses Laster angeblich schon vor einem Jahr aufgegeben hatte. Carol hatte Cindy gar nicht so gut gekannt. Sie war die schöne Tante aus New York gewesen, die ein paarmal im Jahr zu Besuch kam, bezaubernd lächelte und Geschenke mitbrachte. Cindy hatte sie zum letztenmal im vorigen Advent gesehen, als Carol im Chor von »Joseph und der wundersame bunte Traummantel« mitwirkte. Wenn Nichte und Tante auch große Anziehungskraft aufeinander ausgeübt hatten, waren sie sich doch im Grunde fremd geblieben. Trotzdem war Carols Gesicht jetzt schmerzverzerrt und vom vielen Weinen geschwollen.
Jack starrte blicklos vor sich hin, wie er es in der letzten Woche oft getan hatte. Er sah aus wie früher, und doch hatte er sich völlig verändert. Ihm ist etwas genommen worden, dasselbe wie mir, dachte Gail. Wenn ich ihn anschaue, ist mir, als blickte ich in einen Spiegel. Ob er sich innerlich ebenso leer fühlt wie ich mich?
Jacks Hand wanderte ruhelos zwischen seinem Knie und dem Schoß seiner Frau hin und her. In der letzten Woche hatten sie sich oft wie Kinder an den Händen gehalten, aber jetzt umschlang Gail mit beiden Armen ihre Tochter. Jennifer hielt den Blick gesenkt, ihr weißer Rock war feucht von Tränen. Ihr schulterlanges, glattes blondes Haar fiel nach vorn und verdeckte ihr Gesicht. Mit den Händen zog sie bald an ihrem Taschentuch, bald schlug sie sich damit auf die Knie. Rechts von Jennifer saß Sheila Walton, Jacks Mutter, die erst gestern abend aus der Karibik zurückgeflogen war, nachdem Jack sie endlich aufgespürt hatte. Sie hat den abwesenden Blick derer, die noch unter Jetlag leiden, dachte Gail, doch dann korrigierte sie sich: Nein, wir alle laufen seit einer Woche mit diesem Ausdruck herum.
Hinter ihr saßen Mark und Julie, Laura, Mike und andere aus ihrem Freundeskreis. Gail sah sich nach Lieutenant Cole um, konnte ihn jedoch nicht finden.
Ein paar Reihen weiter hinten begannen die Gesichter zu verschwimmen.
Gail hielt angestrengt nach einem Ausschau, das nicht hierher gehörte, doch es war unmöglich. Alle gehörten dazu. Niemand gehörte dazu.
»Der da drüben«, flüsterte sie Lieutenant Cole zu. Er war am Ende des Gottesdienstes aus dem Nichts aufgetaucht, hatte ihren Arm genommen und geleitete sie aus der Kirche. Gail deutete mit dem Kinn auf einen dunkelhaarigen Mann. Lieutenant Cole flüsterte dem Kollegen neben sich etwas zu. »Und den im blauweiß gestreiften Anzug kenn’ ich auch nicht.« Gail sah dem blonden jungen Mann mit den hängenden Schultern nach, als er ins Freie trat. Der Verdächtige hatte aschblondes Haar, erinnerte sie sich. »Oh, und der da!« Sie streckte die Hand aus, ließ sie aber gleich darauf erschrocken wieder sinken.
Um Lieutenant Coles Lippen spielte ein trauriges Lächeln. »Der gehört zu meinen Leuten.«
Erstaunt blickte Gail ihn an. »Der ist bei der Polizei?«
»Als Spitzel, ja.«
Spitzel. In Gedanken wiederholte Gail das Wort, während sie an der Seite des Kommissars die Kirche verließ. Draußen begegnete ihnen Eddie Fraser mit seinen Eltern. Gail versuchte ihm zuzulächeln, doch sie brachte nur eine verzerrte Grimasse zustande. Jack hatte den Arm um Jennifers Schulter gelegt. In der letzten Woche hatten die beiden
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