Lebenslang Ist Nicht Genug
und Leid ertragen mußten. Aber diese eine Woche hatte sie gelehrt, daß manche Menschen zu allem fähig sind und daß es keinen Abgrund gibt, der ihnen zu tief ist. Wie hatte sie nur fast vierzig Jahre auf dieser Welt leben können, ohne das zu erkennen?
Genau sieben Tage waren seit dem 30. April vergangen.
Gails Blick wanderte zur Morgenzeitung auf dem Wohnzimmertisch. »Die Zeitung schreibt, es könne eine Verbindung bestehen zwischen Cindy und dem kleinen Mädchen, das vor einem Jahr getötet wurde...«
»Eine solche Verbindung existiert nicht«, widersprach Lieutenant Cole entschieden. »Ich möchte wissen, woher die Journalisten manchmal ihre Informationen beziehen. Karen Freed wurde überfahren. Der Täter beging Fahrerflucht. Ein Sexualdelikt lag nicht vor. Zwischen den beiden Fällen besteht wirklich nicht die geringste Verbindung.« Gail zuckte zusammen, als der Kommissar ihre Tochter einen Fall nannte.
Sämtliche Zeitungen gefielen sich in theatralischen Zornesausbrüchen und beschworen die Polizei, den Killer aufzuspüren, ehe er erneut zuschlage. Doch in Wahrheit bezweckten die Verleger damit nur eine Steigerung ihrer Auflagen. Vielleicht hatte auch der Mörder eine Nummer dieses Blattes gekauft. Gail schaute versonnen auf die aufgeschlagene Zeitung. Ja, vielleicht kommt der Mörder zur Beerdigung, dachte sie.
Die Fernsehkameras folgten ihnen vom Wagen bis zur Kirche und später von dort auf den Friedhof. Gail beobachtete sie ebenso unbeteiligt, wie sie in der letzten Woche allem Geschehen
ringsum begegnet war. Nur wenn sie sich in Gedanken damit beschäftigte, den Mörder ihrer Tochter zu finden, fühlte sie sich lebendig. Nach außen hin widmete sie sich den Menschen, die sie brauchten. Sie nahm Jennifer in die Arme, legte ihre Hand auf die ihres Mannes und ihre Wange an die der Mutter. Innerlich beobachtete sie jeden Schritt, den sie tat, so als sähe sie einer Schauspielerin in einem nicht synchronisierten ausländischen Film zu, dessen Untertiteln sie nicht zu folgen vermochte. Sie bewegte sich aufs Stichwort von einem Zimmer ins andere, aß, wenn man sie dazu aufforderte, ja sie brachte es bisweilen sogar fertig zu lächeln. Aber ihr Inneres war starr und empfindungslos.
Scheinbar aufmerksam lauschte sie den Worten des Pfarrers, und vielleicht hätte sie seine Predigt sogar Satz für Satz wiederholen können. Aber sie begriff nichts von dem, was er sagte, genausowenig wie der Pfarrer, ungeachtet all seiner tröstlichen Worte, eine Vorstellung davon hatte, was sie empfand. Wie sollte er auch? dachte sie. Ich fühle gar nichts.
Die Kirche war über und über mit Blumen geschmückt. Gail entdeckte Nancys Kranz sofort. Es war der größte. Nancy hatte sie vor zwei Tagen besucht und ihr erklärt, sie könne nicht zur Beerdigung kommen, weil es einfach zu schmerzlich für sie sei. Sie hoffe, nein, sie bete darum, Gail möge das verstehen. Gail hatte versucht, mit ihr über Cindy zu reden, aber Nancy war in Tränen ausgebrochen und hatte Gail angefleht, von etwas anderem zu sprechen. Gail war verstummt, und Nancy hatte die Unterhaltung allein bestritten.
Jetzt sprach der Pfarrer über ihr Kind, wie man leichten Herzens über jemanden sprechen kann, den man nicht richtig kannte, und Gail brachte es nicht fertig, ihm noch länger zuzuhören.
Wir möchten Sie bitten, in der Kirche und auf dem Friedhof auf unbekannte Gesichter zu achten... Es gibt Mörder, die zum Begräbnis ihres Opfers gehen. Gail wandte den Kopf zurück. War er da? Mit forschendem Blick suchte sie die Kirchenbänke ab.
Der Schmerz der Trauergäste schien sich zu vertiefen, je weiter vorn sie saßen. Die Kirche war überfüllt, und Gail stellte erstaunt fest, daß sie längst nicht jedes Gesicht kannte. Sie entdeckte Cindys Lehrerin, deren tränenüberströmtes Gesicht unsagbares Leid ausdrückte. Gail wandte sich rasch ab, als sie spürte, wie das unsichtbare Messer in ihrer Brust zustieß. Mehrere Nachbarn waren gekommen, Gail nickte ihnen zu. Sobald ein Mundwinkel zitterte oder jemand schwer schluckte, blickte sie rasch in eine andere Richtung.
In ihrer Familie war sie vor Gefühlsausbrüchen relativ sicher. Die letzte Woche hatten sie alle wie unter einer Glasglocke gelebt. Das Warten darauf, daß die Polizei die Leiche zur Beerdigung freigab, hatte viel Kraft gekostet. Und der heutige Tag kommt ihnen vor wie ein Schlußpunkt, dachte Gail. Cindys Begräbnis ist das Signal für die anderen, ihr gewohntes Leben wieder
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