Lebenslang Ist Nicht Genug
Wort heraus. Ehe sie das Bewußtsein verlor, merkte sie noch, daß die Einbrecher außer dem Radio auch die Küchenuhr von der Wand gestohlen hatten.
»Wie geht’s dir?« Ihre Mutter saß neben ihr auf dem Bett und wiegte sie, wie sie es früher getan hatte, als Gail noch ein kleines Mädchen gewesen war. Gail nickte schweigend. »O nein«, sagte ihre Mutter. »Das reicht mir nicht. Ich bin doch deine Mutter. Sag mir, wie du dich fühlst.«
»Ich wünschte, das könnte ich«, antwortete Gail aufrichtig. »Mir ist, als hätte mich ein Lastwagen überfahren, und jedesmal, wenn ich glaube, ich könnte wieder aufstehen, kommt er zurück und walzt mich aufs neue nieder. Vom. Kopf bis zu den Zehen ist mein Körper wie erstarrt, aber noch nicht starr genug. Ich wünschte, ich wäre tot.«
Ihre Mutter nickte und schwieg eine Weile. »Wir müssen weiterleben«, sagte sie schließlich. »Uns bleibt keine andere Wahl. Du mußt an die Menschen denken, die dich brauchen, die auf dich zählen. Dein Mann, deine Tochter.«
»Jack ist erwachsen. Und Jennifer ist auch kein Kind mehr. Sie kämen ohne mich aus.«
Zum erstenmal spiegelte sich Angst in Lila Harringtons Augen. »Was sagst du da?« Ihre Stimme klang so eindringlich, wie Gail sie noch nie gehört hatte.
»Ach, nichts.« Gail schüttelte den Kopf.
»Weich mir nicht aus. Gail, ich flehe dich an, mach keine Dummheiten! Unsere Familie hat schon genug Unheil erlebt. Mach’s nicht noch schlimmer.« Ihre Schultern bebten, sie begann zu schluchzen, und nun war es Gail, die ihre Mutter in den Armen wiegte.
»Ich werd’ keine Dummheiten machen, Mom, ich versprech’s dir. Bitte verzeih mir, ich weiß einfach nicht mehr, was ich sage.«
»Du hast geredet, als wolltest du dich umbringen.«
»Ach, das war doch nur dummes Zeug. Ich hätte gar nicht den Mut dazu.« Sie lachte, obwohl sie wußte, daß sie das nicht hätte tun sollen. »Außerdem hab’ ich ja auch gar keine Waffe. Entschuldige, das war schon wieder eine dumme Bemerkung.«
Ihre Mutter setzte sich auf und blickte sie forschend an. »Gail, vielleicht solltest du einen Arzt aufsuchen. Laura hat vorhin angerufen und mir die Adresse von einem genannt, der sehr gut...«
»Ein Psychiater?«
»Ja. Sie meinte, fachkundige Hilfe könnte dir und Jack nur guttun.«
»Er würde mir bloß erzählen, ich hätte’ne verquere Kindheit gehabt und’ne überspannte Mutter. Aber das weiß ich auch so.« Ihre Mutter verzog keine Miene. »Mom, ich brauch’ keinen Psychiater. Ich weiß selbst, was mir fehlt. Ich muß allein damit fertig werden, auf meine Weise, verstehst du? Aber das braucht ein bißchen Zeit.«
»Natürlich mußt du damit fertig werden. Aber er könnte dir dabei helfen. Laura hat mir auch eine Gruppe genannt, zu der du Kontakt aufnehmen solltest...«
Gail lächelte. »Laura ist eine treue Seele. Sie möchte immer anderen helfen.«
»Dann laß dir doch auch helfen! Bitte, Gail, hör auf sie. Ruf diese Leute an.«
»Was ist denn das für’ne Gruppe?«
»Ich hab’s aufgeschrieben. Der Zettel liegt in der Küche. Es heißt so ähnlich wie >Selbsthilfeverband der Opfer von Gewaltverbrechen<. In dieser Organisation kommen betroffene Familien zusammen und versuchen sich gegenseitig zu helfen.«
»Ich bin nie ein Gruppentyp gewesen, Mom.« Gail wünschte plötzlich, daß es anders,wäre. »Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, wie die mir helfen sollten.«
»Aber ein Versuch könnte doch nicht schaden.«
Gail schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich hast du recht.«
»Ich hab’ solche Angst um dich.« Ihre Mutter schluchzte und preßte die Hand vor den Mund.
»Das brauchst du nicht.« Gail seufzte. »Ich komm’ schon zurecht. Ich brauch’ nur ein bißchen Zeit.«
»Aber wirst du dir diese Zeit nehmen?«
Das Telefon klingelte, und die Frage blieb unbeantwortet im Raum stehen. Gail streckte mechanisch die Hand aus und nahm den Hörer ab. »Hallo?«
»Gail,!« Lieutenant Coles Stimme klang ermutigend. »Wie geht’s Ihnen?«
»Danke«, antwortete Gail automatisch. »Lieutenant Cole ist dran«, flüsterte sie ihrer Mutter zu, die sich ängstlich vorbeugte. »Das Haus ist wieder so ziemlich in Ordnung.« Aber mein Leben nicht, dachte sie.
»Ich wollte mit Ihnen über die beiden Männer reden, die Sie mir in der Kirche gezeigt haben.«
»Ja?«
»Der Dunkelhaarige heißt Joel Kramer. Seine Tochter Sally nimmt anscheinend Klavierunterricht bei Ihnen.« Gail nickte schweigend. »Er
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