Lebenslang Ist Nicht Genug
gestrichen. Mark hatte der Polizei Namen und Adressen einer Frau gegeben, mit der er angeblich die Stunde zwischen seinen beiden Terminen verbracht hatte. Diese Frau habe sein Alibi bestätigt. Gail fragte sich, ob Julie wohl von dieser Frau wisse, und während sie noch darüber nachdachte, spürte sie
wieder die bittere Enttäuschung, die sie angesichts der Demütigungen und Verletzungen in ihrer ersten Ehe empfunden hatte.
Es hatte Gail Vergnügen bereitet zu beobachten, wie die Zeit verging und wie dies oder jenes sich im Lauf der Jahre veränderte. Aber sie war eine mehr oder minder unbeteiligte Zuschauerin geblieben. Sie hatte miterlebt, wie Freunde ihre Partner tauschten und ihre Ideale wechselten, wie sie eine Aufgabe durch eine andere ersetzten und sich bitter über Kinder beklagten, die nur die Kopie ihrer Eltern waren.
Natürlich las Gail in der Zeitung von all den Greueltaten, die tagtäglich verübt wurden. Aber sie war mit der Vorstellung aufgewachsen, daß die Menschen in der freien Welt sich ihr Leben nach eigenem Gutdünken einrichten konnten und jedem das Schicksal zuteil wurde, das er verdiente.
Unmittelbar nach Cindys Tod verlor sie als erstes diese Illusion.
6
»Wir möchten Sie bitten, in der Kirche und auf dem Friedhof auf unbekannte Gesichter zu achten«, sagte Lieutenant Cole.
»Wie? Was haben Sie gesagt?« Gails Stimme zitterte, ihre Finger waren eiskalt, und ihre Hände bewegten sich unruhig in ihrem Schoß.
Der Kommissar antwortete mit einer Geste, die er gewiß nicht auf der Polizeischule gelernt hatte. Teilnahmsvoll nahm er Gails Hände in die seinen. Solch instinktive Reaktionen waren typisch für Richard Cole, den Gail während der letzten Woche immer weniger als Polizeibeamten, sondern zunehmend als Freund kennengelernt hatte. Er besuchte Gail und ihre Familie täglich, hielt sie über den Stand der Untersuchungen auf dem laufenden, über die Spuren, die er verfolgte, die Geständnisse von Spinnern,
die er geprüft und verworfen hatte, kurz, er berichtete ihr von dem üblichen mühsamen Stückwerk einer Morduntersuchung. Manchmal kam er nach Dienstschluß auf dem Heimweg vorbei, um mit ihr zu reden. Er war dabei gewesen, als Gail und Jack die alten Fotoalben mit den Bildern ihres toten Kindes studierten. Er hatte ihnen zugehört, wenn sie ihre Erinnerungen ausbreiteten, und obwohl Gail ahnte, daß er dadurch etwas zu erfahren hoffte, was ihn auf die Spur des Mörders führen könnte, war sie ihm doch dankbar für seine Aufmerksamkeit, für seine Bereitschaft zuzuhören. Viele ihrer Freunde, die anriefen, um ihr Beileid auszudrücken, oder die sie besuchten, reagierten verlegen, sobald Gail von Cindy zu sprechen begann. Sie versicherten ihr, es sei nicht gut für sie, »daran« zu denken. Gail hörte also auf, von Cindy zu reden, aber sie tat das nicht um ihret-, sondern um der anderen willen.
»Es gibt Mörder, die zum Begräbnis ihres Opfers gehen«, erklärte Lieutenant Cole. »Ihren kranken Geist versetzt ein solches Schauspiel in eine Art Machtrausch. Es ist so ähnlich wie mit dem Autor eines Theaterstücks, der die Reaktion des Publikums nach dem letzten Akt abwartet. Der Mörder schwelgt einerseits in der freiwillig eingegangenen Gefahr, gefaßt zu werden, und andererseits im Anblick des Unglücks, das er verursacht hat. Wann sonst bietet sich ihm die Gelegenheit, seine Macht zu fühlen?«
Gails Magen rebellierte. »Sie glauben also, daß er hinkommt?«
»Die Möglichkeit besteht. Kirche und Friedhof werden natürlich überwacht. Wenn Ihnen ein Unbekannter auffällt, oder wenn Sie jemanden sehen, der Ihnen merkwürdig vorkommt - sei es, daß er lächelt oder sonstwas tut, was auf Beerdigungen ungewöhnlich ist -, dann lassen Sie’s mich wissen. Ich werde ständig in Ihrer Nähe sein.«
Gail nickte und zwang sich, den Worten des Kommissars zu folgen. Der Mann, der ihre Tochter umgebracht hatte, würde vielleicht auch zu ihrem Begräbnis kommen! Welch grauenhafte Vorstellung. Sie rief sich die widerlichen Anrufe ins Gedächtnis
zurück, die sie in dieser letzten Woche erhalten hatte: Zornige Stimmen verurteilten sie als Mutter; religiöse Fanatiker behaupteten, Gott bestrafe sie für ihre Sünden; gemeine Menschen quälten sie, indem sie die Stimme eines kleines Mädchens imitierten und »Mami!« riefen. Vor einer Woche hätte sie es noch nicht für möglich gehalten, daß es solche Monster gab, Leute, die vorsätzlich andere peinigten, die doch schon so viel Schmerz
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