Lebenslang Ist Nicht Genug
war nicht größer als einsfünfzig und wog kaum mehr als achtzig Pfund. In ihrem blonden Haar mischten sich helle und dunklere Strähnen. Die Wimperntusche war verschmiert und lief ihr in dünnen, schwarzen Rinnsalen über die Wangen. Ihre Stimme war nur ein Flüstern. Wenn sie auch zu den Anwesenden sprach, so redete sie im Grunde doch mehr mit sich selbst. Obwohl zehn Leute um sie versammelt waren, fühlte diese Frau sich unverkennbar allein, so wie jeder von ihnen in Wahrheit allein war.
»Sie war zu einer Freundin gegangen, mit der sie zusammen Schularbeiten machen wollte. Das tat sie fast jeden Tag. Ich hab’ sie immer wieder gefragt - gelöchert, wie sie’s nannte -, ob es wirklich was brächte, wenn sie mit ihrer Freundin zusammen lernte. Ich hatte meine Zweifel, ob die beiden tatsächlich ernsthaft arbeiteten. Aber sie blieb dabei, daß sie viel davon profitiere, weil Peggy - so hieß das andere Mädchen - viel klüger sei als sie
und ihr vieles beibringen könne. Was sollte ich dem entgegenhalten? Ich bin schließlich nur die Mutter, nicht wahr?« Die Frau schluckte, senkte den Kopf und wischte sich die Augen. »Ich wußte es nicht besser.« Sie sah Gail an, die ihr unbeweglich gegenübersaß und kaum zu atmen wagte. »Also ist sie losgezogen wie gewöhnlich. Es war an einem Dienstagabend, so gegen halb acht. Sie wollte um zehn zurück sein. Ich hab’ mir im Fernsehen einen Film angeschaut. Danny, mein Sohn, war schon zu Bett gegangen. Mein Mann und ich, wir sind geschieden; ich lebte allein mit den Kindern. Anfangs hab’ ich nicht sonderlich auf die Zeit geachtet. Aber während eines Werbespots fällt mein Blick auf die Uhr, und da ist es schon Viertel vor elf. Das sieht Charlotte gar nicht ähnlich. Sie kommt immer pünktlich nach Hause. Sie war ein braves Kind. Zuerst dachte ich noch, sie hätten vielleicht mehr Zeit für die Aufgaben gebraucht. Oder meine Tochter hätte lange auf den Bus warten müssen. Peggy wohnte nicht weit von uns, aber ich wollte nicht, daß Charlotte nachts allein zu Fuß unterwegs war. Außerdem war die Bushaltestelle direkt vor Peggys Haus. Ich hab’ also gewartet; es wurde elf, der Film war zu Ende, und ich begann ärgerlich zu werden. Ich überlegte, ob ich bei Peggy zu Hause anrufen sollte oder nicht. Jeder weiß doch, wie verhaßt Heranwachsenden das Gefühl ist, die Eltern spionierten ihnen nach. Schließlich dachte ich: Verdammt noch mal, wenn’s ihr peinlich ist, soll sie eben nächstes Mal pünktlich sein! Ich griff zum Telefon und rief bei Peggy an. Ihre Mutter versicherte mir, Charlotte sei bereits über eine Stunde fort. Mit dem Bus hätte sie nur ein paar Minuten bis nach Hause gebraucht. Allmählich machte ich mir Sorgen. Um Mitternacht war ich völlig aufgelöst. Ich rief ihre sämtlichen Freundinnen an, holte jede aus dem Bett, bei der sie vielleicht hätte sein können. Zuletzt wußte ich mir keinen anderen Rat mehr, als die Polizei einzuschalten. Aber das war reine Zeitverschwendung. Der Beamte meinte, Charlotte sei wahrscheinlich mit ihrem Freund zusammen. Ich sagte, sie habe keinen Freund, sie sei ein sehr schüchternes Mädchen. Da lachte
der Polizist am anderen Ende und versicherte mir, alle siebzehnjährigen Mädchen hätten einen Freund, und nur ihre Mütter hielten sie für schüchtern. Er fragte mich, ob wir gestritten hätten oder ob sie einen Grund gehabt habe, von zu Hause fortzulaufen. Ich verneinte das. Er fragte nach meinem geschiedenen Mann. Ich erklärte, ich hätte ihn seit der Scheidung nicht mehr gesehen. Er sagte, Charlotte sei wahrscheinlich zu ihrem Vater gegangen. Ich fragte, wie das möglich sei, da meine Tochter genausowenig eine Ahnung habe, wo er sich aufhielte, wie ich. Er behauptete, Teenager wüßten vieles, was sie ihren Müttern verschwiegen. Ich solle mich beruhigen und den nächsten Morgen abwarten. Meine Tochter würde mich bestimmt anrufen. Außerdem könne die Polizei sowieso erst dann etwas unternehmen, wenn das Mädchen seit vierundzwanzig Stunden vermißt werde. Der Beamte riet mir, schlafen zu gehen. Morgen nachmittag würde er jemanden vorbeischicken - falls Charlotte bis dahin nicht von selbst wieder aufgetaucht sei.
Ich wußte, daß sie keinen Freund hatte und auch nicht bei ihrem Vater sein konnte, den sie schließlich seit acht Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ihr mußte etwas zugestoßen sein, sonst hätte sie mich zumindest angerufen. Aber die Polizei hörte nicht auf mich. Sie blieb bei der Theorie, meine
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