Lebenslang Ist Nicht Genug
Mörder meiner Tochter gefunden wurden, schien mir das ein Beweis dafür, daß dem Recht Genüge getan werde. Heute weiß ich es natürlich besser. Ich glaube nicht mehr an Gerechtigkeit. Das Recht meiner Tochter auf ein langes, glückliches Leben verblaßt neben dem Recht ihrer Mörder, wenn ein geschickter Anwalt es in die Hand nimmt. Er kann die ohnehin schwachen Gesetze im Handumdrehen
nach eigenem Gutdünken zerpflücken, und das im Namen der Gerechtigkeit. Kann mir jemand von Ihnen eine Frage beantworten?« Die Frau blickte der Reihe nach in jedes Gesicht, aber ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, daß ihre Frage rein rhetorisch war. »Kann mir jemand erklären, warum es so viele hervorragende Anwälte gibt, aber nur wenige kompetente Anklagevertreter?« Sie schluckte hörbar. »Wie lange wird es dauern« - diesmal flehte ihre Stimme um Antwort - »wie lange wird es dauern, bis ich mich von diesem Haß befreien kann, an dem ich langsam ersticke?«
Gail hatte das Gefühl, als sei die letzte Frage direkt an sie gerichtet. Sie beugte sich zu ihrem Mann hinüber. Sie wollte fort von hier. Warum hatte er sie hergebracht? Spürte er denn nicht, welche Qual dieser Abend für sie bedeutete?
»Jack«, flüsterte Gail, doch er hing seinen eigenen Gedanken nach. Sie berührte seinen Arm, versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen, ohne die Gruppe zu stören. Zehn Leute saßen da beisammen, die eines gemeinsam hatten: Ihr Leben war unwiderruflich zerstört worden, und zwar durch einen sinnlosen Gewaltakt, dem sie hilflos ausgeliefert waren. Wie viele solcher Organisationen gab es in den Vereinigten Staaten? Wie viele Menschenleben wurden auf solch grausame Weise zerstört?
»Ich habe ein paar Bilder von Charlotte mitgebracht«, fuhr die zierliche Frau fort. Sie holte einen Stapel Fotos aus ihrer Handtasche und reichte sie herum. »Auf dem ersten ist Charlotte noch ein Baby. Ich weiß nicht, warum ich das mitgebracht hab’.« Sie kicherte verschämt. »Wahrscheinlich wollte ich Ihnen zeigen, was für ein hübsches Baby ich hatte. Die anderen Bilder wurden aufgenommen, als Charlotte siebzehn war; das letzte machte ich drei Wochen vor ihrem Tod. Sie hatte so schönes, langes blondes Haar, in das sie richtig vernarrt war. Ich konnte sie nicht mal dazu bewegen, es auch nur einen Zentimeter kürzen zu lassen.« Sie hielt inne und sah zu, wie die Fotos von Hand zu Hand wanderten. Gail spürte ihren Blick auf sich ruhen, als sie die Bilder in
Empfang nahm. Sie betrachtete das pausbäckige, strahlende Baby und das lächelnde blonde Mädchen, das nun tot war. Rasch schob sie Jack die Fotos zu. Vergebens bemühte sie sich, ihm zu signalisieren, daß sie fort wolle, daß sie es nicht mehr aushielte.
Wie kann er nur ruhig dasitzen und sich das anhören? Und die anderen, wie halten die das aus? Gail blickte sich im Kreis der Leute um, die der Schmerz zusammengeführt hatte.
Das Treffen fand in West Orange statt, im Haus von Lloyd und Sandra Michener. Sie hatten die Gruppe vor drei Jahren gegründet, sechs Monate, nachdem ihre Tochter auf dem Heimweg vom Kino erstochen worden war. Laura hatte ihr zwar erklärt, wie diese Selbsthilfeorganisation aufgebaut war - »ähnlich den anonymen Alkoholikern, weißt du« -, doch auf so viel Direktheit war Gail nicht gefaßt gewesen.
»Darf ich euch Gail und Jack Walton vorstellen«, hatte Lloyd Michener sich an die Runde gewandt. »Ihre sechsjährige Tochter Cindy wurde vor sieben Wochen ermordet.« Keine Beschönigungen, kein Versuch, die grausame Wahrheit zu verschleiern. Dieses Stadium hatte die Gruppe längst hinter sich.
Lloyd Michener hatte sie mit den Anwesenden bekannt gemacht: Sam und Terri Ellis, deren vierzehnjähriger Sohn bei einem Überfall auf einen Laden in der Nachbarschaft umgebracht worden war; Leon und Barbary Cooney, deren zwölfjährigen Sohn ein älterer Mitschüler in der Pause beim Streit ums Milchgeld erstochen hatte; Helen und Steve Gould, deren Babysitter durchgedreht und ihre kleine Tochter erwürgt hatte; und Joanne Richmond, deren siebzehnjährige Tochter Charlotte zwei Halbstarke auf einem Feld vergewaltigt und zu Tode geprügelt hatten.
Gail hatte schon bei der Begrüßung gespürt, wie ihre Nervosität sich von Minute zu Minute steigerte und wie Übelkeit in ihr hochstieg. Am liebsten hätte sie auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre davongerannt.
Lloyd Michener schien ihre Gedanken zu erraten. »Ich kann mir vorstellen, was Sie jetzt durchmachen. Uns
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