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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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zugestoßen. Sie hat sich große Sorgen gemacht.«
    Jennifer lief zu ihrer Mutter. »Aber ich hab ’ ja angerufen. O Mom!« Sie kniete neben Gail nieder. »Es tut mir so leid. Bitte, hör auf zu weinen. Mir ist nichts passiert. Und mir wird auch nichts passieren. Ich bin doch schon groß, ich kann selbst auf mich aufpassen. Du hättest dich nicht zu ängstigen brauchen.«
    Gail schluchzte hemmungslos. Die so lange zurückgehaltenen Tränen brachen sich unaufhaltsam Bahn. »O Mom, bitte, entschuldige. Bitte, Mom, sag was, sprich mit mir.«
    »Ich hab’ dich lieb«, stammelte Gail unter Tränen. »Wenn dir was zustieße... ich könnte es nicht ertragen.«
    »Ich hab’ dich doch auch lieb.« Jetzt fing Jennifer ebenfalls an zu weinen. »Ich würde alles drum geben, damit du wieder froh sein könntest. O Gott, ich wünschte, ich wäre tot und nicht Cindy.«
    Gail preßte ihrer Tochter die Hand auf den Mund. »Liebes, so was darfst du nicht sagen! So was darfst du nicht mal denken!«
    »Ich hab’ dein Gesicht gesehen, als du an dem Nachmittag heimkamst, und ich war da, aber Cindy nicht. Ich weiß, daß du dir gewünscht hast, ich wäre tot... Ich versteh’s sogar... sie war noch so klein...«
    »Und das hast du die ganze Zeit mit dir rumgetragen? Jennifer, Spätzlein, es ist nicht wahr. Ich schwör’s dir. Kein Wort davon ist wahr. Ich hab’ dich lieb, mehr als alles auf der Welt.«
    Sie nahm ihre Tochter in die Arme. Jennifer schmiegte sich schluchzend an ihre Mutter.
    »Mein Kind, mein Schatz, ich liebe dich so sehr. Verzeih mir, daß ich nicht gemerkt hab’, was du durchgemacht hast. Ich dachte, du wolltest nur nicht über Cindy sprechen, weil’s dir unangenehm war.«
    »Ich war gemein zu ihr, Mom.« Jennifer schluchzte.
    »Was redest du da?« Gail machte keine Anstalten, sich die Tränen abzuwischen, die ihr über die Wangen liefen.

    »Sie hat mich gestört, als ich lernen wollte. Da hab’ ich sie aus meinem Zimmer rausgeschmissen.« Jennifer zitterte am ganzen Körper. »Und einmal hat sie meine Schuhe anprobiert. Ich kam dazu und hab’ sie angebrüllt, sie habe meine Sachen durcheinandergebracht und müsse alles wieder aufräumen. Ich hab’ sie so angeschrien, daß sie anfing zu weinen. Einmal hab’ ich sie erwischt, wie sie in meiner Handtasche kramte. Sie hatte sich mit meinem Lippenstift das ganze Gesicht vollgeschmiert. Da hab’ ich gesagt, sie sähe doof aus, richtig häßlich. Mein Gott, Mom, wie konnte ich nur so gemein zu ihr sein?«
    Gail strich ihrer Tochter das Haar aus dem Gesicht. »Du warst nicht gemein zu ihr. Du warst die beste große Schwester, die ein kleines Mädchen sich nur wünschen kann. Hörst du mich?« Jennifer nickte. »Du brauchst dir keinen Vorwurf zu machen, bloß weil du sie mal angebrüllt hast, wenn sie sich danebenbenommen hat oder dir ganz einfach auf die Nerven gegangen ist. Das ist doch ganz natürlich. So was passiert jedem von uns. Es zählt nur, was du wirklich für sie empfunden hast.«
    »Ich hatte sie ehrlich lieb.«
    »Ja, das weiß ich. Und Cindy wußte das auch. Sie hatte dich auch sehr, sehr lieb.«
    Gail vergrub ihr Gesicht im Haar ihrer Tochter und weinte und weinte. Als Jack nach Hause kam, weinte sie immer noch. Carol und Jack waren erleichtert darüber, und ihre Eltern gewiß auch. Carol rief sie noch am selben Abend an und versicherte ihnen, Gail würde bald wieder auf dem Damm sein. Sie habe heute geweint. Doch dann weinte Gail Tag für Tag, und ihre Familie begann erneut, sich Sorgen um sie zu machen.

9
    »Die Umwelt erwartet von uns, daß wir drüber wegkommen«, sagte die Frau leise. »Man erwartet von uns, daß wir nach einer gewissen Zeit wieder zu unserem alten Leben zurückfinden. Wenn wir den Leuten erklären, daß es unser altes Leben nicht mehr gibt, so verstehn sie das nicht. In ihren Augen schwelgen wir in Selbstmitleid. Sie glauben einfach, mit der Zeit müsse man es überwinden. Die Zeit vergeht, viel Zeit, vielleicht Jahre, und die Menschen um uns werden ungeduldig. Sie befürchten, man sei nicht mehr ganz bei Verstand. Trauer, sagen sie, sei ein edles Gefühl, aber es dürfe nicht zur Selbstzerstörung führen. Das sei nicht normal. Wir versuchen ihnen zu erklären, daß uns etwas widerfuhr, was nicht normal ist, und darauf erwidern sie, das Leben gehe weiter. Wir nicken. Was bleibt uns anderes übrig. Niemand weiß schließlich besser als wir, wie recht sie haben: Das Leben geht weiter!« Sie lachte ein bitteres Lachen.
    Die Frau

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