Lebenslang Ist Nicht Genug
allen ist es anfangs
genauso ergangen, glauben Sie mir.« Er griff nach ihrer Hand. »Hier dürfen Sie frei von der Leber weg sprechen. >Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!< So lautet unser Wahlspruch. Nichts, was Sie sagen, wird uns schockieren. Ihr Abscheu kann nicht größer sein, als der unsere es war. Lassen Sie sich von uns helfen, Gail.« Er spürte ihr Widerstreben, auch wenn er es nicht verstand.
Er hatte ihre Hand losgelassen und sich Joanne Richmond zugewandt. »Joanne hat sich bereit erklärt, uns heute abend ihre Geschichte zu erzählen. Sie brauchen nur zuzuhören«, erklärte er Gail. »Gewöhnlich beteiligen sich neue Mitglieder bei ihren ersten Besuchen nicht an der Diskussion. Aber das bleibt natürlich ganz und gar Ihnen überlassen.«
Gail hatte ihm schweigend zugehört. Sie schwieg auch jetzt, als Joanne Richmond ihren Bericht beendet hatte und ihre Fotos wieder einsammelte.
»Wollen wir ein paar Minuten Pause machen und einen Kaffee trinken?« schlug Sandra Michener liebenswürdig vor.
»Ich möchte gehen«, sagte Gail zu Jack.
»Aber...«
»Es ist sinnlos, darüber zu diskutieren. Ich muß hier raus, ob du nun mitkommst oder nicht!«
Sie wirkte so entschlossen, daß Jack nachgab. »Ich geh’ mit«, sagte er widerstrebend.
Gail lief unverzüglich in die Diele hinaus und wartete an der Haustür auf Jack. Sie hörte ihn mit Lloyd Michener sprechen, der auch jetzt wieder genau zu wissen schien, was in ihr vorging.
»Das ist durchaus nichts Ungewöhnliches. Neulinge gehen oft mitten in der Sitzung raus. Es ist schwierig, ruhig dazusitzen und sich all das Leid anzuhören, vor allem, wenn man selbst so ziemlich das gleiche durchgemacht hat. Versuchen Sie Ihre Frau zu überreden, das nächste Mal wiederzukommen. Aber wenn sie sich weigert, dann kommen wenigstens Sie. Das rate ich Ihnen dringend. Der Volksmund sagt, das Unglück bringe die Mensehen
enger zusammen. Doch das ist ein Irrtum. In Wirklichkeit verhält es sich genau umgekehrt. Die Betroffenen kommen mit ihren Schuldgefühlen nicht zu Rande, und das belastet sogar die beste Ehe. Nach unseren Erfahrungen landen siebzig Prozent derer, die keine Hilfe von außen suchen, vor dem Scheidungsrichter. Bitte kommen Sie wieder. Es ist wichtig.«
Jacks Antwort hörte sie nicht. Wahrscheinlich hatte er nur genickt. Ein paar Minuten später saßen er und Gail im Wagen und fuhren schweigend nach Hause.
10
Am letzten Morgen ihrer selbstgesetzten Frist von sechzig Tagen rief Gail den Kommissar an.
»Ich bin’s«, sagte sie verlegen, als Lieutenant Cole sich meldete. Er erkannte ihre Stimme sofort. »Sie dürfen mich jederzeit anrufen, Gail. Das wissen Sie doch. Wie war’s bei der Selbsthilfegruppe?«
»Ach... so...« Gail wollte nicht über die Sitzung sprechen. Sie hatte genug von den Diskussionen mit Jack, Carol und Laura, die stundenlang versucht hatten, sie zu überreden, am nächsten Treffen teilzunehmen. Gail war fest entschlossen, das nicht zu tun.
»Gruppen wie die der Micheners haben schon vielen Menschen geholfen«, tastete der Kommissar sich weiter vor.
»Das hab′ ich auch gehört.« Gail wechselte das Thema: »Sagen Sie, gibt’s was Neues?«
»Wir haben ein Psychogramm des Mörders erstellt.«
»Und was ist das?«
»Wir haben aufgrund mehrerer psychiatrischer Gutachten den geistig-seelischen Hintergrund dieses Mannes bestimmt. Warten Sie ′n Moment, ich les′ Ihnen den Bericht vor.« Gail hörte Papier
rascheln. »Ah, da haben wir’s.« Er machte eine wirkungsvolle Pause. »Nach Meinung der Experten ist der Mörder ein Einzelgänger. Möglicherweise hat er’n Vorstrafenregister, aber wohl nur für kleinere Vergehen. Wahrscheinlich stammt er aus einer zerrütteten Familie, obwohl das heutzutage nichts Besonderes ist. Seine Mutter war entweder zu dominant oder zu labil.«
Wie auch immer, die Mutter ist in jeder Familie schuld, dachte Gail.
»Er dürfte kaum feste Bindungen haben«, fuhr Lieutenant Cole fort. »Er war ein schlechter Schüler und möglicherweise gar ein Tierquäler. Seinen Vater hat er entweder nicht gekannt, oder er ist von ihm mißhandelt worden.«
Gail ordnete die Informationen. »Im Grunde läuft’s also darauf hinaus, daß jeder der Mörder sein könnte.«
»Nein. Wir tappen zwar im dunkeln...«
»Aber was wissen Sie denn schon?«
»Nun, selbst unter Berücksichtigung aller Wenn und Aber steht doch fest, daß wir einen jungen Mann suchen, der ziemlich kontaktarm ist, einen
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