Lebenslang Ist Nicht Genug
Tochter sei von zu Hause weggelaufen. Daran konnten auch die Aussagen ihrer Freunde und ihrer Lehrer nichts ändern, die alle beteuerten, Charlotte sei nicht der Typ, einfach davonzulaufen, und von ihrem Vater habe sie nie gesprochen. Eines Nachmittags - Charlotte war inzwischen seit sechs Tagen verschwunden - hatte ich mich hingelegt. Ich hatte keine Nacht mehr richtig geschlafen, seit sie verschwunden war. Plötzlich hörte ich einen Wagen vorfahren, und als ich aus dem Fenster sah, erkannte ich ein Polizeiauto. Im ersten Moment sprang ich erfreut auf, denn ich dachte: Jetzt haben sie mein Kind gefunden und bringen’s mir. Doch die Polizisten waren allein. Sie gingen sehr langsam, so als wollten sie eigentlich gar nicht ins Haus kommen. Plötzlich fühlte ich mich furchtbar
elend. Charlotte und ich, wir hatten uns immer sehr nahegestanden, besonders, seit ihr Vater uns verlassen hatte.
An alles, was danach geschah, erinnere ich mich nur verschwommen. Ich versuchte es zu verdrängen. Die Polizisten sagten, sie hätten eine Leiche gefunden. Möglicherweise sei es Charlotte, aber einwandfrei könne das nur durch ein zahnärztliches Gutachten festgestellt werden. Die Leiche habe auf einem Feld gelegen, die Verwesung habe bereits eingesetzt; außerdem hätten Tiere den Körper angenagt. Es dauerte noch einen Tag, ehe wir mit Sicherheit wußten, daß die Tote meine Charlotte war. Man hatte sie vergewaltigt und zu Tode geprügelt, wahrscheinlich mit einem stumpfen Gegenstand. Dazu gehörte nicht viel. Sie war nicht größer als ich.
Fast ein Jahr lang ging ich nicht mehr aus dem Haus. Danny zog zu meinem Bruder. Charlottes Vater meldete sich erst einen Monat nach ihrem Tod. Als er endlich anrief, gab er mir die Schuld. Ich widersprach ihm nicht. In meinen Augen hatte er sogar recht. Auch ich gab mir die Schuld.«
Sie brach ab, und im Raum herrschte für ein paar Minuten tiefes Schweigen. Dann begann die zierliche Frau wieder zu sprechen.
»Wie gesagt, ich verkroch mich fast ein Jahr lang im Haus. Ich habe in der Zeit über fünfzehn Kilo abgenommen. Eine Nachbarin überredete mich schließlich dazu, zum Arzt zu gehen, und der steckte mich einen Monat ins Krankenhaus. Als ich rauskam, versuchte ich mich umzubringen. Das erste Mal schaffte mich meine Nachbarin grade noch rechtzeitig in die Klinik. Als ich’s ein zweites Mal probierte, fand mich mein Sohn. Danny war meinem Bruder weggelaufen, weil er nach Hause wollte. Beim Anblick des Jungen wußte ich, daß ich mir nicht das Leben nehmen durfte. Ich habe nie mehr Hand an mich gelegt, auch wenn ich immer noch den Wunsch habe, es zu tun.
Das ist jetzt vier Jahre her. Danny ist zweimal sitzengeblieben, und er hat fast jede Nacht Alpträume. Seine Lehrer haben mich
gewarnt, daß er dieses Jahr das Klassenziel wieder nicht erreichen wird, wenn er sich nicht schleunigst am Riemen reißt. Ich hab’ versucht zu arbeiten, aber ich kann mich auf keiner Stelle lange halten. O Gott, es wird immer schlimmer. Aber warum erzähle ich Ihnen das? Sie wissen ja alle, wie das ist. Sie sind die einzigen, die mich verstehen.«
Sie blickte sich unter ihren Zuhörern um. In den Augen der Leute standen Tränen. Schweigend bekundeten sie ihr Verständnis. Gail wagte kaum zu atmen. Warum bin ich hier? Warum hat Jack unbedingt darauf bestanden, daß wir herkommen? Ich muß hier raus, weg von diesen Menschen, dachte sie.
Die zierliche Frau fuhr in ihrem Bericht fort. »Etwa eine Woche nachdem man Charlottes Leiche gefunden hatte, nahm die Polizei zwei Jugendliche fest. Beide unter achtzehn. Sie waren geständig. Ihre Tat hatte keinen besonderen Grund, gaben sie zu Protokoll. Sie wollten bloß rauskriegen, was für ein Gefühl es sei, jemanden sterben zu sehen. Auf Charlotte waren sie ganz zufällig verfallen. Sie kurvten mit einem Wagen durch die Gegend, den sie gestohlen hatten. Da sahen sie Charlotte an der Bushaltestelle stehen, zerrten sie ins Auto und fuhren mit ihr hinaus aufs Feld.« Die Frau blickte sich mit hilfloser Gebärde im Zimmer um. »Sie waren nicht volljährig, verstehen Sie. Deshalb kamen sie nicht ins Gefängnis. Man schickte sie in ein Erziehungsheim. Der eine ist schon wieder auf freiem Fuß, der andere wird in ein paar Monaten entlassen. Und da sie minderjährig sind, gelten sie noch nicht mal als vorbestraft.« Sie sah zu Boden. »Ich weiß selbst nicht, was ich mir erhoffte. Ich vertraute wohl darauf, daß in unserem Lande die Gerechtigkeit triumphiert. Als die
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