Lebenslang Ist Nicht Genug
abartige Erwachsene freisprechen.
Eine andere Meldung betraf eine Frau, die schon vor einiger Zeit unter höchst verdächtigen Umständen zwei Kinder verloren hatte - eines war im Alter von sieben Monaten in der Badewanne ertrunken, und das andere hatte angeblich aus Versehen irgendein Gift geschluckt. Nun war diese Frau angeklagt, den Tod ihrer drei Monate alten Tochter durch absichtliche Vernachlässigung herbeigeführt zu haben. Sie wurde für schuldig befunden und zu einer Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt. Sie erklärte feierlich, daß sie noch viele Babys zu bekommen gedenke, sobald sie aus dem Gefängnis entlassen werde, und daß niemand sie daran hindern könne, so viele Kinder zu haben, wie Gott ihr schenke.
Wieder hatte Gail die Zeitung auf ihren Schoß sinken lassen und über die Bedeutung des Gelesenen nachgedacht. Man durfte also Kinder töten, folgerte sie, besonders, wenn es sich um die eigenen handelte. Auch in diesem Fall zählten Kinder nicht als vollwertige Menschen. Die Mörderin von wahrscheinlich drei wehrlosen Kindern war zu nur zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Die Sonntagsausgabe der »New York Times« brachte ähnliche Meldungen: Ein Mann, der seine Frau erschossen hatte, war mit der gleichen Haftstrafe belegt worden wie jene Frau, die ihre Kinder umgebracht hatte, und zwar mit der Begründung, er habe echte Reue gezeigt, und es sei nicht zu erwarten, daß er noch einmal eine Gewalttat begehen werde. Zwei Männer waren freigesprochen worden, nachdem der zuständige Richter zu dem Schluß gelangt war, die Frau, die sie vergewaltigt und mit der sie Unzucht getrieben hatten, habe ihren Handlungen zugestimmt. Er bezog sich dabei auf Fotos, die einer der Männer gemacht hatte und auf denen das Opfer unter Tränen lächelte, während es mißbraucht wurde. Diese Bilder genügten dem Richter als Beweis, um die Anklage fallenzulassen, obwohl die Frau aussagte, die Männer hätten ihr gedroht, sie zu töten, falls sie nicht in die Kamera lächle. Der Richter entschied, die Frau habe sich augenscheinlich amüsiert. Ihre beiden anschließenden Selbstmordversuche und die anhaltende Depression ließ er nicht als Gegenbeweis gelten. Er urteilte, die Frau sei eindeutig erst nach der Tat von Reue befallen worden.
Unter der Rubrik »Vermischtes« brachte eine Zeitung zwei Berichte, die nur mittelbar zum Thema gehörten. In Florida hatte ein Mann zwei Jugendliche erschossen, die versucht hatten, in seinen Laden einzubrechen. Der Meldung zufolge hatte er einen der beiden getötet, als der ihm mit vorgehaltener Pistole befahl, die Kasse zu öffnen. Dann war er ruhig auf den zweiten jungen Mann zugegangen, der sich angstvoll duckte, und hatte ihm eine Kugel in den Kopf gejagt. Der Ladenbesitzer wurde nun in
seiner Stadt wie ein Held gefeiert und gab Interviews, in denen er strahlend verkündete, jeder Amerikaner habe das Recht, sein Eigentum zu schützen.
In einem anderen Fall war ein Einbrecher in New York von einer Gruppe aufgebrachter Bürger überrascht worden, als er einen alten und beliebten Kaufmann erschoß. Statt die Polizei zu benachrichtigen, nahmen die Leute selbst die Verfolgung auf. Sie erwischten den Dieb, fielen über ihn her und rissen ihm in ihrem furchtbaren Rachedurst die Augen aus dem Kopf.
Gail las diese beiden letzten Meldungen noch einmal und empfand dabei eine Mischung aus Ekel und seltsamer Befriedigung.
»Geht’s dir gut?« fragte Jack unvermittelt. Gail blickte auf und merkte, daß er sie aufmerksam betrachtete. Das Buch lag unbeachtet in seinem Schoß.
»Ja«, antwortete sie. »Warum fragst du?«
»Du hast gezittert.«
»Ach, wirklich?« murmelte Gail verwundert. Sie zuckte die Achseln und faltete die Zeitung zusammen.
Jack sah auf seine Armbanduhr. »Es ist fast Mitternacht. Ich glaube, ich leg’ mich hin. Kommst du auch?«
»Ich wollte eigentlich auf Jennifer warten.«
»Wozu? Sie ist doch mit Eddie zusammen, nicht wahr?«
»Ich dachte bloß, ich sollte auf sie warten, für den Fall, daß sie sich mal aussprechen möchte. Du weißt doch, ich kann sowieso nicht einschlafen, ehe ich sie heimkommen höre.«
»Vielleicht möchtest du dich aussprechen?« fragte Jack mit sanftem Nachdruck. »Bist du traurig, weil Carol morgen abfährt?«
Gail schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist Zeit, daß sie geht.«
»Es ist Zeit für so manches.« Jack trat zu ihr und nahm ihre Hand in die seine. »Zeit, daß wir uns wieder mit unseren Freunden treffen...«
»Ich
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