Lebenslang Ist Nicht Genug
Ihr war, als bewege sie sich in Zeitlupe, jeder Schritt wirkte schleppend und mühsam. Ihre Schwester war abgefahren, ohne sich von ihr zu verabschieden. Während sie noch darüber
nachdachte, hörte sie wieder das Geräusch von zerbrechendem Glas.
Gail erstarrte. Jemand versuchte einzubrechen.
Eine Weile stand sie wie angewurzelt und wußte nicht, was sie tun sollte. Wer immer sich da unten zu schaffen machte, glaubte offenbar, es sei niemand im Haus. Was würde er tun, wenn er sie hier fand? Vor kurzem hatte sie einen Artikel über eine alte Frau gelesen, die getötet wurde, als sie einen Einbrecher in ihrer Wohnung überraschte. Der Raubmörder war zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Gail blickte zum Telefon und überlegte, ob sie Zeit genug habe, die Polizei anzurufen. Dann fiel ihr Blick auf den silbernen Knopf an der Wand über dem Telefon, den Alarmknopf. Ein Druck darauf genügte, um im Polizeirevier ein Notsignal auszulösen. Gail war dagegen gewesen, als Jack diese Alarmvorrichtung nach dem Einbruch zusammen mit der elektronischen Sicherungsanlage installieren ließ. »Die kommen nicht wieder«, hatte sie damals argumentiert. Aber nun waren sie doch gekommen.
Sie hörte, wie jemand das Schloß an der Innenseite der Tür aufbrach, und wußte, daß dieser Jemand in wenigen Sekunden ins Haus gelangen und gleich darauf die Treppe heraufkommen würde. Sie hatte noch Zeit, den Alarmknopf zu drücken, und der Ton würde den Einbrecher bestimmt verjagen. Ihre Hand tastete schon nach dem Knopf, hielt aber mitten in der Bewegung inne.
Der Atem stockte ihr, als sie begriff, daß sie den Mann gar nicht verjagen wollte. Vielleicht war es Cindys Mörder.
Lieutenant Cole konnte sich geirrt haben, als er es für unwahrscheinlich erklärte, daß Cindys Mörder und der Einbrecher, der ihr Haus ausgeraubt hatte, identisch seien. Das psychiatrische Gutachten ging davon aus, daß der Täter ein Strafregister wegen früherer Bagatelldelikte habe. Es wäre möglich, dachte sie und hielt den Atem an. Mein Gott, alles ist möglich.
Jedenfalls würde sie bleiben, wo sie war, und auf ihn warten. Sie würde sich nicht von der Stelle rühren.
Plötzlich hörte sie vom Flur her eine Stimme.
»Mom!« rief Jennifer. »Was ist das für’n Krach?«
Gail sah ihre Tochter in der Tür stehen. Fragend blickte Jennifer sie an. »Wieso bist du noch hier?«
»Ich hab’ verschlafen. Ich war ziemlich lange aus, letzte Nacht«, gestand Jennifer kleinlaut. »Ich hab’ Dad angerufen. Er sagte, ich brauch’ erst heute nachmittag zu kommen.« Angst spiegelte sich auf ihrem Gesicht. »Was ist das für ein Lärm, Mom?«
Sie war also nicht allein im Haus. Jennifer war da. Sie konnte nicht hier stehenbleiben und auf den Mann an der Tür warten. Sie mußte ihr Kind beschützen.
Im nächsten Augenblick hörte sie, wie die Haustür nachgab. »O mein Gott«, flüsterte sie und packte Jennifers Hand, während unten in der Diele Schritte erklangen und gleich darauf von Zimmer zu Zimmer tappten. »Schnell«, zischte sie Jennifer zu und zog sie an der Hand hinter sich her in den Flur. Sie wußte nicht, in welche Richtung sie laufen sollte. Sie wandte sich nach links, machte kehrt und rannte denselben Weg zurück. Jennifer fiel vor lauter Verwirrung über ihre eigenen Füße, ihre Hand löste sich aus der ihrer Mutter, sie stürzte zu Boden und stöhnte laut auf vor Schmerz.
Gail hetzte zurück, griff nach Jennifers Hand, zerrte sie hoch und schubste sie vor sich her den Flur entlang. Jennifer stieß einen Schreckenslaut aus. »Sei still«, mahnte Gail. Ihre Panik wuchs, als die Männer - sie stellte fest, daß es zwei waren und daß der Jüngere hellbraunes Haar hatte - den Treppenabsatz erreichten. Gail stieß ihre Tochter zurück ins Elternschlafzimmer, und sie schlug die Tür hinter sich zu.
»Hilf mir«, keuchte Gail. Gemeinsam schleppten sie erst einen Sessel und dann ein Tischchen vor die Tür. »Drück auf den Alarmknopf«, befahl Gail. Jennifer gehorchte, und Gail zerrte
die schwere Frisierkommode, die am Fußende ihres Bettes stand, als zusätzliche Barrikade vor die Schlafzimmertür. Im selben Augenblick, in dem die Männer von außen gegen die verrammelte Tür hämmerten, löste Jennifer den Alarm aus. Sofort heulte die Sirene auf, aber die Einbrecher ließen sich dadurch nicht abschrecken. Gail packte ihre Tochter, zog sie fest an sich und lief mit ihr nach nebenan ins Bad. Jennifer fing an zu weinen, während Gail in wilder
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