Lebenslang Ist Nicht Genug
du hast sie’n paarmal angeschrien.« Carol schien ratlos. »Du warst also nicht die perfekte Mutter. Na und? Du bist schließlich nur’n Mensch, oder? Du wirst weiterhin Fehler machen.
Du wirst auch in Zukunft mal jemanden ungerecht behandeln. Das passiert doch jedem von uns.« Carol stockte und blickte ihre Schwester hilflos an. »Ich weiß, ich rede schon wieder wie unsere Mutter, aber sei’s drum.« Sie zwang Gail, ihr in die Augen zu sehen. »Wichtig ist, daß du dein Bestes gegeben und dich nach Kräften bemüht hast, eine gute Mutter zu sein. Mensch, jetzt predige ich fast genau wie du! Weißt du nicht mehr, was du zu Jennifer gesagt hast? Es komme nur darauf an, daß sie Cindy geliebt und daß die Kleine es auch gefühlt hat. Sie sei die beste große Schwester gewesen, die ein Kind sich nur wünschen könne. Warum kannst du das nicht auch beherzigen? Warum willst du nicht einsehen, daß du die beste Mutter warst, die ein kleines Mädchen sich wünschen kann? Gail, denk doch mal, wie wenige Kinder heutzutage das Glück haben, ihre Mutter den ganzen Tag für sich zu haben. Cindy war ein rundum glückliches Kind...« Gails Miene ließ sie stocken. »Entschuldige, ich kann mir denken, wie das in deinen Ohren klingt. Aber deswegen brauchst du mich nicht gleich aufzufressen. Du weißt doch, wie ich’s gemeint hab’!«
Gail saß reglos da, das geöffnete Fotoalbum auf dem Schoß. Sie blickte in das zarte Gesicht ihrer jüngeren Schwester, sah die Augenränder, die verrieten, daß Carol an Schlaflosigkeit litt. Dann schloß sie das Album und legte es neben sich. »Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Sie vergessen? Soll ich mit den Fotos meine Erinnerungen wegschließen und so tun, als habe es Cindy nie gegeben?«
Carol schüttelte den Kopf. »Nein, Gail, nein. Niemand verlangt, daß du Cindy vergißt. Aber du darfst auch dich nicht vergessen. Du mußt weiterleben. Du hast eine Familie, die dich liebt, einen wunderbaren Mann, der dich anbetet. Wir müssen doch alle irgendwie weitermachen...«
Gail lächelte wehmütig. »Du redest wirklich wie Mutter.«
»Ich weiß.« Carols Stimme schwankte zwischen Lachen und Weinen. »Das hab’ ich ja gesagt.«
»Ist schon gut.« Gail schluchzte. »Mutter ist nicht das schlechteste Vorbild.« Sie drückte ihre Schwester an sich, dann sammelte sie die Fotoalben ein und stellte sie in die hinterste Ecke des Bücherregals. »Du hast ganz recht.« Als sie sich wieder zu Carol setzte, klang ihre Stimme entschlossen und gefaßt. »Ich bin froh, dich bei mir zu haben. Aber ich meine, es wird Zeit, daß auch du deinen Rat beherzigst und wieder dein eigenes Leben führst. Du hast meinetwegen schon genug versäumt.«
Carol nickte. »Ich muß zugeben, ich hab’ in den letzten Tagen manchmal daran gedacht, nach New York zurückzufahren.« Ihr Blick wanderte zu den Fotoalben im Regal. »Es scheint dir wieder besserzugehen. Außerdem sind Jack und Jennifer bei dir. Ich weiß, es wird dir an nichts fehlen.« Sie hielt inne. »Im übrigen - Anruf genügt«, fügte sie mit erzwungener Fröhlichkeit hinzu. »Wenn du mich brauchst...«
»Dann meld′ ich mich, keine Sorge. Wann willst du denn fahren?«
»Ich dachte, nach dem Unabhängigkeitstag?«
»Nach’m 4. Juli?« Gail nickte zustimmend. »Weißt du, was? Ich mach’ jetzt einen kleinen Spaziergang.«
»Soll ich mitkommen? Ich brauch’ mich nur schnell anzuziehen?«
»Nein, laß nur. Ich bleib’ nicht lange.«
Gail war geradezu erleichtert darüber, daß Carol nach New York zurück wollte. Zwar hatte sie die Schwester nach wie vor gern um sich, aber vor ihr lag eine Aufgabe, die sie nur allein bewältigen konnte.
Gail blickte auf das Gebüsch, auf das zertretene Gras rings um die grüngestrichene Bank und dachte: Carol hat recht. Es ist Zeit, sich der Gegenwart zu stellen, oder, wie Lieutenant Cole es heute früh formuliert hat, Zeit, wieder ein normales Leben zu führen.
Für Gail gab es nur einen Weg, das zu verwirklichen: Sie
mußte den Mann finden, der ihr Leben zerstört hatte. Der Kommissar hatte ihn einen Sonderling genannt. Wenn man’s ironisch deutet, dann paßt der Begriff auch auf mich, dachte Gail. Als sie um die Bank herumging und ins Gebüsch eindrang, war sie nicht mehr die schmerzerfüllte Mutter, die ihren Erinnerungen nachhing, sondern ein Detektiv auf Spurensüche. Sie kniete nieder und fuhr mit der Hand über den weichen Boden, tastete nach der Stelle, wo ihre Tochter gelegen hatte,
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