Lebenslang Ist Nicht Genug
Geduld.«
»Ich liebe dich«, sagte Gail und dachte, er hätte etwas Besseres verdient.
»Das weiß ich. Bleib nicht zu lange auf.«
Gail sah ihm nach und überlegte, wie ihr Exmann Mark mit einer solchen Tragödie fertig geworden wäre. Höchstwahrscheinlich hätte er einen Monat lang seinen Kummer im Alkohol ertränkt und sich dann aus dem Staub gemacht. Ihre Ehe wäre unter dem Druck zerbrochen. Er wäre in seinen Sportwagen mit Metallic-Lackierung gesprungen und dem Sonnenuntergang entgegengefahren. Er hätte versucht, seine Erinnerungen mit Hilfe von Frauen und Alkohol zu vergessen. Auf jeden Fall hätte er ihr nie das Mitgefühl und Verständnis entgegengebracht, womit Jack Walton ihr begegnete.
Sie stellte sich vor, wie Jack sich jetzt oben im Schlafzimmer auszog. Nackt wirkte sein starker Körper erstaunlich verletzlich. Seit dem Unglück hatten sie nicht mehr miteinander geschlafen.
Sex mit Jack gehörte zu den wundervollen Uberraschungen ihrer zweiten Ehe. Marks Rolle als Liebhaber war zwar eine seiner besten gewesen, aber dafür mußte im Bett auch alles nach seinen Vorstellungen ablaufen. Er trug seinen Sex-Appeal wie ein Markenzeichen vor sich her, und eine nicht erstklassige Leistung im Bett hätte für ihn eine tiefe Demütigung bedeutet, eine Art schlechte Reklame. Gail wußte, daß attraktive Männer nicht unbedingt umwerfend im Bett sind, weil sie oft zu sehr in den eigenen Körper verliebt sind, um auf die Bedürfnisse ihrer Partnerin zu reagieren, aber Mark hatte nicht zu dieser Kategorie gehört. Er wußte den Körper einer Frau wirklich zu schätzen. Leider mußte Gail bald erfahren, daß er so ungefähr jeden Frauenkörper schätzte, und mit der Zeit vergällte diese bittere Erkenntnis ihr die Freude am Sex. Gail hatte Jack von Anfang an für einen fähigen Liebhaber gehalten. Aus seiner stattlichen Erscheinung schloß sie, daß er in der Kunst der Liebe erfahren sein würde, stark und doch behutsam, aber nicht sonderlich originell oder forschend. Ihre Einschätzung war freilich nur zum Teil richtig. Als Liebhaber überraschte Jack Walton sie immer von neuem. Er war wirklich stark und behutsam zugleich. Aber er konnte auch leidenschaftlich und schüchtern sein, herausfordernd und hingebungsvoll, sanft und verspielt. Nach fast neunjähriger Ehe war ihr Verlangen nacheinander immer noch so stark wie in den Flitterwochen.
Doch das galt nur bis zum Nachmittag des 30. April. Bis zu dem Tag, an dem ein Fremder, der im Gebüsch lauerte, mit seiner perversen Lust jedes Verlangen in ihr getötet hatte.
Gail wartete, bis sie Eddies Wagen vorfahren hörte, ehe sie die Zeitungen zusammenräumte und hinauf ins Schlafzimmer ging.
Jack schlief schon, als Gail sich neben ihn legte. Durch die Dunkelheit spähte sie zu ihm hinüber, bis sie seine Züge erkennen konnte. Ihr Blick blieb auf seinen sanft geschwungenen halbgeöffneten Lippen haften.
Er ist so stark, dachte sie. So fürsorglich. Er gibt sich solche
Mühe. Sie wußte, daß sie ihn, all seinen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, enttäuschte und im Stich ließ.
Gail legte den Kopf auf das Kissen neben dem seinen, starrte hinauf an die Decke und dachte: Er wäre ohne mich besser dran.
12
Ein Geräusch riß sie aus dem Schlaf.
Jemand war an der Haustür. Aber es hatte nicht geklingelt; sie wußte, daß auch niemand geklopft hatte. Es war ein anderes Geräusch, und es dauerte eine Weile, ehe sie begriff, daß das, was sie hörte, das Klirren von Glas war. Sie setzte sich mit einem Ruck auf. Jack lag nicht mehr neben ihr. Es war Tag, und sie schien allein im Haus zu sein. Sie warf einen Blick auf den Wecker neben dem Bett. Es war zehn Uhr.
In ihrem Kopf jagten sich die Gedanken. Carols Bus nach New York ging fahrplanmäßig um acht Uhr fünfundvierzig. Jack wollte sie zur Bushaltestelle fahren. Jennifer sollte Punkt neun mit der Arbeit bei ihrem Vater beginnen. Das bedeutete, sie hatte den Aufbruch ihrer ganzen Familie verpaßt.
Hatte sie wirklich so fest geschlafen?
Hatten die anderen vergeblich versucht, sie aufzuwecken? Sie war tatsächlich furchtbar müde gewesen, das Ergebnis ihrer jüngsten Nachforschungen hatte sie niedergedrückt, und Jennifer war erst kurz vor zwei Uhr morgens heimgekommen. Sie würde mit ihr darüber reden müssen. Zwei Uhr war selbst in den Sommerferien zu spät für ihr Alter.
Gail stand auf und trat ans Fenster. Sie zog den blauen Vorhang zurück und schaute hinunter in den Hof. Sie fühlte sich benommen.
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