Lebenslang Ist Nicht Genug
Mörder angerichtet haben.«
»Das ist ein überholtes Argument.«
»Ich wüßte nicht, was daran überholt sein soll.«
Die Stimmen folgten rasch aufeinander, fielen eine über die andere
wie ein Haufen Dominosteine. Gail konnte nicht mehr unterscheiden, wer sprach. Sie schloß die Augen und lauschte auf den Klang der zornigen, verworrenen Stimmen. Die Gesichter waren unwichtig. Sie brauchte die Leute nicht zu sehen, um sie wiederzuerkennen. Sie sah all diese Sprecher tagtäglich in ihrem eigenen Spiegelbild.
»Gail, jetzt hab’ ich wirklich genug. Laß uns zum Essen gehen.«
»Ich möchte weiter zuhören.«
»Ich nicht«, sagte Carol ungestüm und wandte sich zum Gehen. »Wir haben die Petition unterzeichnet. Mehr können wir nicht tun. Also komm endlich.« Gail rührte sich nicht. »Gail, ich gehe. Die Hälfte der Leute, die diese blöde Liste unterschrieben haben, sind Taschendiebe und Gauner. Ich will hier weg.«
»Ich treffe dich im Restaurant«, sagte Gail.
»Gail!«
Gail wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Menge zu. Wie nebenbei registrierte sie, daß Carol den Platz neben ihr geräumt und jemand anders ihn eingenommen hatte.
»Die Todesstrafe versucht einen Mord durch einen zweiten zu rächen. Wie können Sie das richtig finden?«
»Die Gesellschaft hat das Recht, gewaltsam gegen Verbrecher vorzugehen.«
»Niemand hat das Recht zu töten.«
»Unsere ermordeten Kinder macht nichts wieder lebendig.«
»Darum geht’s doch gar nicht.«
»Worum denn dann?«
»Es geht darum«, hörte Gail eine Stimme sagen, während sie im Geiste sah, wie jemand ihre Tochter in den Schlamm warf, »es geht darum, daß gewisse Subjekte ihr Leben einfach nicht verdienen.«
»Genau.« Der Mann neben ihr nickte bekräftigend.
Dann schien der Versammlung der Zündstoff auszugehen, und die Leute zerstreuten sich allmählich.
Gail sah sich nach Carol um, aber die war verschwunden. Sie mußte ihr nachgehen und sie um Entschuldigung bitten. Gail wandte sich in Richtung des Russischen Tea-rooms, da bemerkte sie einen blonden jungen Mann, der sie aus einiger Entfernung beobachtete.
Als ihre Blicke sich trafen, wandte er rasch den Kopf und ging davon. Er wirkte ziemlich befangen und blickte sich mehrmals nach ihr um. Gail gab sich alle Mühe, ihn im Auge zu behalten, aber er verschwand gleich darauf im Fußgängerstrom.
Angestrengt spähte sie in die Menge, aber der junge Mann war wie vom Erdboden verschluckt. Gail ging langsam weiter, schaute unterwegs in jedes Schaufenster und überlegte, was sie wohl an dem Jungen so magisch angezogen haben mochte.
Er hatte sie beobachtet. Ob er sie von den Zeitungsfotos her kannte? Hatte er gewußt, wer sie war? War Cindys Mörder womöglich nach New York geflohen, um hier zwischen vielen anderen Illegalen und Unerwünschten unterzutauchen? War es möglich, daß sie auf so wunderbare Weise auf ihn stieß? Nein, das ist verrückt, dachte Gail. Ihre Schwester fiel ihr ein, und sie wollte gerade kehrtmachen, um zurück zur Siebenundfünfzigsten Straße zu gehen, da sah sie ihn auf der anderen Straßenseite. Er betrat gerade einen der Läden, die euphemistisch als »Buchhandlungen für Erwachsene« firmieren.
Gail holte tief Luft und überquerte die Straße. Sie öffnete die Tür zu dem Geschäft und spürte, wie mehrere Augenpaare sich auf sie richteten, als sie eintrat und langsam hinter dem Jungen her die erste Regalreihe entlangschritt.
Worauf sie auch immer gefaßt gewesen sein mochte, das, was sie sah, überraschte sie doch und erfüllte sie mit Ekel. »Zwanzig neue Mösen« nannte sich ein Blatt lakonisch und zeigte im Innenteil die entsprechenden Großaufnahmen. Gail blätterte flüchtig in den am wenigsten anstößigen Heften, die sie finden konnte, während sie sich unaufhaltsam ans andere Ende des Ladens durchdrängelte.
Die nächste Reihe enthielt fast nur Beiträge zum Thema Züchtigung und Folter. Gail sah Fotos von Frauen, die ausgepeitscht wurden, Frauen, die in Ketten lagen oder mit Brenneisen gemartert wurden. »Wie vergewaltige ich eine Jungfrau?« lautete die Überschrift eines Artikels. Auf einem einprägsamen Foto wurde eine Frau in einen Fleischwolf gesteckt.
Gail schloß die Augen und versuchte, den Brechreiz zu unterdrücken. Mit zitternder Hand schob sie die Illustrierte zurück in das Fach. Sie dachte an Jennifer, die bei ihrem Vater die Kunst des Fotografierens erlernte. Was waren das für Leute, die solche Bilder machten? Und was für Männer, vor
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