Lebenslang Ist Nicht Genug
der Luft und sprach mit kräftiger, erhobener Stimme.
»Komm, wir gehen auf die andere Seite«, meinte Carol.
»Worüber redet der?« Gail achtete nicht auf den Rat ihrer Schwester und trat auf die Gruppe zu.
Was der Mann in der Hand hielt, war eine Petition, die härtere Strafen für Gewaltverbrechen forderte. Gail lauschte wie gebannt der Erzählung des Mannes, dessen Sohn vor zehn Monaten bei einem versuchten Diebstahl erstochen worden war. Der Unterschriftensammler berichtete weiter, daß der jugendliche Täter schon kurz nach dem Mord gefaßt und vor Gericht gestellt worden sei. Nach zahlreichen Aufschüben sei die Verhandlung endlich zum Abschluß gebracht worden. Man habe den Schuldigen wegen Totschlags zu einundzwanzig Monaten Gefängnis verurteilt. Der Schock über dieses milde Urteil wurde noch verstärkt, als die Polizei dem Vater des Ermordeten mitteilte, daß der Täter wahrscheinlich schon nach sieben Monaten wieder auf freiem Fuß sein werde.
»Komm, wir gehn«, flüsterte Carol beklommen und zerrte Gail am Ärmel.
Gail befreite sich sanft aus dem Griff ihrer Schwester und versuchte von den Gesichtern der Umstehenden ihre Reaktion auf die Worte des Mannes abzulesen.
Immer mehr Leute blieben stehen. Sie hörten aufmerksam, fast respektvoll zu. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich Anteilnahme, sogar Erschrecken und vielleicht auch Bewunderung, als der Mann weitererzählte, daß er nach dem Prozeß seinen Arbeitsplatz aufgegeben habe und durch die Staaten gereist sei, um eine landesweite Unterschriftenkampagne zu starten, die härtere Strafen für Gewaltverbrechen forderte. Er rühmte sich, inzwischen fast eine Million Unterschriften gesammelt zu haben.
Gail trug sich in die Liste ein, und Carol schloß sich ihr an. Eine Frau neben ihnen war der Ansicht, eine solche Aktion würde nicht viel nützen, da Politiker an notorischer Taubheit litten, wenn nicht gerade eine Wahl vor der Tür stehe. Doch auch diese Frau hatte unterschrieben.
»Ich habe jede Petition unterschrieben, die mir je vor die Augen kam«, erklärte sie den beiden Schwestern. »Ich habe mich auch immer wieder für die Wiedereinführung der Todesstrafe eingesetzt...«
»Wozu soll die Todesstrafe denn gut sein?« mischte sich eine andere Frau ins Gespräch. »Die hat noch niemanden abgeschreckt. Wir müssen lernen, uns geistig und körperlich von all diesem Haß zu befreien. Sonst werden wir nie in Frieden leben. Wir müssen uns zu Gott bekennen und einsehen, daß sein Weg der einzig wahre ist...«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß Gottes Wille geschieht, wenn Unschuldige sterben und ihre Mörder ungeschoren davonkommen.«
»Verschont uns mit diesen Sonntagsschuldebatten über die Existenz Gottes«, meldete sich ein untersetzter Mann unwirsch zu Wort. »Wenn es einen Gott gibt, dann hat Er zumindest auf
mein Leben nicht den geringsten Einfluß.« Die Frau, die zuvor von Gott gesprochen hatte, bekreuzigte sich und flüsterte ein Gebet für die Umstehenden. »Worum geht’s denn wirklich? Was man unterschreibt oder wen man hier in New York wählt, ist völlig unerheblich. Unser Gouverneur hat versprochen, sein Veto gegen jede von der Legislative verabschiedete Gesetzesvorlage zur Wiedereinführung der Todesstrafe einzulegen, genau wie’s auch sein Vorgänger getan hat. Außerdem würde sich durch die Wiedereinführung der Todesstrafe auch nichts ändern.«
»Es wäre ein Anfang«, sagte jemand.
»Ich bin nicht für die Todesstrafe«, rief ein Mann hinter Gail. »Das bringt doch nichts.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte eine Frau, die sich bisher nicht an der Diskussion beteiligt hatte. »Mit der Todesstrafe wären wir bloß ebenso barbarisch wie die Mörder.«
»Blödsinn!« rief der Untersetzte.
Carol zerrte wieder an Gails Ärmel. »Gail, komm doch endlich.«
»Wenn man wenigstens drauf hoffen dürfte, daß die Gerichte solche Kerle lebenslänglich einsperren...«
»Darauf können Sie lange warten.«
»Die sind eher wieder draußen, als Sie glauben«, sagte der Mann mit der Unterschriftenliste bitter. »Alle Welt hat Mitleid mit ihnen. Sie sind unverstanden. Sie hatten eine unglückliche Kindheit. Tja, das ist ihr Pech. Ich bin jedenfalls der Meinung, wir sollten endlich aufhören, uns so verdammt viel um die Verbrecher zu sorgen. Statt dessen wär’s endlich an der Zeit, sich auch mal um die Opfer und deren Familien zu kümmern. Wir müssen nämlich für den Rest unseres Lebens mit dem fertig werden, was diese
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