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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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ermahnte sie sich, nachdem der junge Mann sich nach einem geglückten Annäherungsversuch mit der Rotbehosten an ihr vorbei zum Ausgang gedrängt hatte, als sei sie Luft.
    In den nächsten zwei Tagen eröffnete Gail Konten in einer ganzen Reihe von Banken und Sparkassen aller zwielichtigen Gegenden von Essex County. Sie verbrachte Stunden hinter dem Steuer, aber noch mehr Zeit damit, zu Fuß die Straßen auszukundschaften. Dabei hielt sie die Augen offen und wartete.
    Sie wurde häufiger Gast der vielen Leihhäuser in Newark und East Orange. Anfangs verwirrte sie das ungemein breitgefächerte Warenangebot. Am ersten Tag ließ sie sich auf keine Geschäfte ein. Wann immer jemand fragte, ob sie etwas Bestimmtes suche, schüttelte sie den Kopf und murmelte undeutlich ihr stereotypes »Ich seh’ mich nur mal um.« Am nächsten Tag brachte sie von zu Hause einige Sachen mit (eine alte Brosche, allerhand Plunder, der seit Jahren ungenutzt herumlag) und versetzte sie. Dafür bekam sie insgesamt achtzehn Dollar, die sie auf eins ihrer neuen Konten einzahlte.
    Am Mittwoch war Gail zum Lunch in einer der einschlägigen schäbigen Imbißstuben eingekehrt. Sorgfältig prägte sie sich die Gesichter der Gäste ein, die hier zu Mittag aßen. Am Donnerstag brachte sie sich ihr Essen in einer Papiertüte von zu Hause mit und verzehrte es in einem nahe gelegenen Park in Gesellschaft von Männern, die in ihren Papiertüten freilich nur billigen Wein versteckt hatten. Sie fing zahlreiche mißtrauische Blicke auf und merkte, daß ihre Kleidung daran schuld war. Sie sah einfach zu wohlhabend aus, um als Gast solcher Parks und Imbißketten
glaubhaft zu wirken. Sie würde ihr Aussehen verändern müssen. Im Geiste ging sie auf der Suche nach passenden Kleidungsstükken ihre Garderobe durch.
    Am Freitag fuhr sie widerstrebend nach Manhattan, um sich mit ihrer Schwester zum Lunch zu treffen. Carol hatte darauf bestanden, daß sie früher in die Stadt käme, damit die beiden Schwestern ein paar Stunden für sich allein hätten. Jack hatte diesen Vorschlag unterstützt. Seine Sprechstundenhilfe würde ihn und Jennifer am Abend in ihrem Wagen nach New York mitnehmen. Gail hatte schließlich eingewilligt, aus Angst, eine Szene heraufzubeschwören oder etwas zu sagen, das mißverstanden werden könnte. Sie hielt es für wichtig, allen den Eindruck zu vermitteln, sie freue sich gleich ihnen auf den Abend in New York. Innerlich empfand sie freilich nur Leere.
    Jack hatte seinen Beruf; Jennifer hatte ihren Ferienjob und die Gesellschaft von Vater und Stiefvater. Mann und Tochter schienen sehr gut ohne sie auszukommen. Gail wurde einfach nicht mehr gebraucht, auch wenn alle Welt ihr das Gegenteil einzureden versuchte. Abgesehen von gelegentlichen kleinen Ausrutschern hielten Gails Familie und ihre Freundin die Rolle, welche sie ihnen vorspielte, für echt, und sie war zunehmend darauf bedacht, ihre wahren Gefühle zu verbergen.
    Was aber sind meine wahren Gefühle? überlegte sie auf der Fahrt nach Manhattan. Sie hatte keine. Sie war innerlich tot. Eine Broadway-Show würde kaum genügen, um sie ins Leben zurückzuholen, auch wenn sie lachen würde und klatschen und so tun, als amüsiere sie sich ebenso gut wie die anderen.
    In Wahrheit fühlte sie sich nur dann lebendig, wenn sie dem Tod auf der Spur war. Aber es wäre sinnlos, das jemandem erklären zu wollen. Alle würden ihr besorgt raten, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Keiner würde sie verstehen. Aber verstand sie sich denn selbst?

     
    Carol hatte einen Tisch im Russischen Tea-room bestellt. »Ich weiß, daß es’n Touristenlokal ist und ziemlich ausgeflippt, aber was soll’s?« Sie lachte, und Gail stimmte ein. »Du siehst gut aus. Aber’n bißchen dünn.«
    Die beiden Schwestern gingen über den Broadway in Richtung Siebenundfünfzigste Straße. Gail beobachtete unterwegs die Straßenhändler und betrachtete aufmerksam die heruntergekommenen Läden rechts und links.
    »Ich hatte vergessen, wie dreckig es hier ist«, sagte Gail, während sie einen Bogen um eine Lache Erbrochenes machten. »Jetzt ist’s verhältnismäßig sauber hier«, widersprach Carol. »Vor ein paar Jahren sah’s noch ganz anders aus.«
    Gail blickte in die Schaufenster der zahlreichen Elektrogeschäfte, aber die schienen jetzt mehr Videokassetten mit Pornofilmen anzubieten als Stereoanlagen. An der Ecke sah Gail eine Gruppe von Menschen, die einen einzelnen Mann umringte. Er schwenkte irgend etwas in

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