Lebenslang Ist Nicht Genug
gelichtetem Haar lehnte. »Was ist los mit Ihnen?« fuhr der ärgerlich fort. »Sind Sie verrückt? Wissen Sie denn nicht, was auf dieser Straße passiert ist? Es ist verdammt gefährlich, hier auszusteigen! Müssen Sie vielleicht mal pinkeln? Dann warten Sie gefälligst bis zum nächsten Rasthaus!«
Gail dankte dem Mann für seine Fürsorge und kehrte verschüchtert zu ihrem Wagen zurück. Er wartete, bis sie eingestiegen war, ehe er weiterfuhr. Als er Gail überholte, schüttelte er verständnislos den Kopf.
Ich habe nichts erreicht, dachte sie nervös, ohne auf den Verkehr zu achten. Ihre Ausflüge nach Newark und East Orange waren vergeblich gewesen. Jeder ist schuldig, entschied sie zynisch. Es gibt keine Unschuldigen.
Am hellichten Nachmittag würde sie gewiß keinem Mörder auf dem Highway begegnen. Ihre Erkundungsfahrten waren völlig sinnlos gewesen.
Nach ein paar Tagen gab Gail es auf, am Nachmittag über den Highway 280 zu fahren. Von jetzt an würde sie ihr Glück bei Nacht versuchen.
Sie wartete den Abend ab, an dem Jack wieder zu einem von Lloyd Micheners Gruppentreffen ging. Sie weigerte sich auch diesmal, ihn zu begleiten, doch kurz nachdem er gegangen war, erklärte sie Jennifer, sie sei nervös und wolle ins Kino gehen, um sich abzulenken. Als Jennifer ihr anbot mitzukommen, erinnerte Gail sie an ihre Schularbeiten und verließ das Haus, ehe Jennifer noch etwas einwenden konnte.
Der Highway bei Nacht schien einer anderen Welt anzugehören. Die Dunkelheit nahm ihm den Schutzmantel der Zivilisation und verwandelte die schlangengleichen Biegungen und Kurven in eine spürbare Bedrohung. Gail hatte das auch vor den Morden schon so empfunden, etwa an dem Abend, als sie mit Jack und
Jennifer von New York heimgefahren war. Sie war noch nie ein Nachtmensch gewesen. Als Kind hatte sie bei offener Tür geschlafen, damit das Licht aus dem Bad in ihr Zimmer fiel. Bei Tage fühlte sie sich mitten im Geschehen, dazugehörig, behütet, geborgen. Aber mit der Dunkelheit kam die Isolation. Sie fühlte sich wie ein Beobachter auf einem fremden Planeten, und diese Vorstellung hatte ihr schon immer Angst eingejagt. Als ihr jetzt, hier auf dem dunklen Highway, bewußt wurde, daß ihr Wagen weit und breit der einzige war, verstärkte sich das Gefühl der Isolation und drohte sie zu überwältigen. Sie kämpfte gegen den Impuls, umzukehren, sich in die Geborgenheit ihrer hellerleuchteten Küche zu flüchten und den nächsten Morgen abzuwarten. Da fiel ihr ein (als ob sie es je auch nur für einen Augenblick vergessen könnte), daß Cindy im hellen, freundlichen Tageslicht umgebracht worden war, daß Ungeheuer sich also nicht nur vom Mondschein leiten lassen. Ihre Augen versuchten die Dunkelheit am Straßenrand zu durchdringen. (»Gibt es echt Monster, Mama?« - »Natürlich nicht, Spätzchen.«) Ihre Hände umklammerten das Steuerrad, und sie fuhr mit erhöhtem Tempo weiter geradeaus.
Und dann sah sie den anderen Wagen.
Sie hatte schon fast die Grenze nach New York erreicht, als sie ihn entdeckte. Er war hinter ein paar Bäumen versteckt und zusätzlich durch seine dunkle Farbe getarnt. In Sekundenschnelle nahm er die Verfolgung auf und schob sich immer näher an ihren hinteren Kotflügel heran. Gail gab Gas. Doch der andere Wagen blieb dicht hinter ihr. Sie schaute in den Rückspiegel, aber die Dunkelheit und das blendende Scheinwerferlicht des anderen Wagens machten es ihr unmöglich, ihre Verfolger zu sehen. Sie erkannte nur, daß es zwei Männer waren. Plötzlich drehte der Wagen nach links ab und verschwand aus ihrem Blickwinkel. Gleich darauf war er neben ihr und versuchte, sie von der Straße abzudrängen. Gail trat das Gaspedal bis zum Boden durch, aber der andere Wagen ließ sich nicht abschütteln. Der Mann auf dem
Beifahrersitz winkte sie ungestüm auf die Standspur. Dann hörte sie die Sirene und schaute mit spürbarer Erleichterung zu dem Wagen hinüber. Der Mann auf dem Beifahrersitz winkte ihr mit irgend etwas zu, etwas, das aussah wie eine Dienstmarke, und sie begriff, daß er den Alarm ausgelöst hatte, obwohl das Auto nicht als Polizeifahrzeug gekennzeichnet war. Sie nahm den Fuß vom Gas, verringerte langsam das Tempo und kam schließlich auf dem Seitenstreifen zum Stehen. Der andere Wagen hielt direkt hinter ihr. Sie hörte die Türen schlagen und sah zwei Männer auf sie zurennen, Pistolen im Anschlag. Plötzlich fiel ihr ein, daß niemand wußte, wie den früheren Opfern aufgelauert worden
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